Amokspiel
steckte.
»Das war Anton«, erklärte sie. »Mein Sohn.« Sie öffnete ihr Portemonnaie und zeigte wie zum Beweis ein abgegriffenes Foto des vierjährigen Knirpses herum. Trotz s einer offensichtlichen geistigen Behinderung hatte Jan selten einen so glücklichen Jungen gesehen. »Zu wenig Sauerstoff. Die Bauchnabelschnur hat ihn fast erdrosselt«, erklärte sie und schaffte es, dabei gleichzeitig zu lächeln und zu seufzen. Ohne es auszusprechen, wussten alle, welche Angst die Hochschwangere vor einer Wiederholung des Geburtstraumas haben musste. »Antons Vater hat uns noch im Kreißsaal verlassen«, sie verzog ihre Unterlippe. »Nun, dadurch verpasst er jetzt das Beste in seinem Leben.«
»Das glaube ich auch«, bestätigte Kitty und gab ihr das Foto zurück. Ihre Augen glänzten, und sie sah so aus, als lese sie gerade das Ende eines wunderschönen Buches. »Eigentlich sollte mein kleiner Schatz ja heute mitkommen, aber er hatte gestern Abend wieder einen Anfall.« Die werdende Mutter zuckte mit den Achseln. Anscheinend war das keine Seltenheit bei Anton. »Ich wollte natürlich bei ihm bleiben, aber ich durfte nicht. >Mama<, sagte er zu mir, >du musst für mich gehen und Markus Timber fragen, was er für ein Auto fährt<«, imitierte sie eine niedliche Kinderstimme.
Alle lachten gerührt, und selbst Jan musste aufpassen, dass er nicht aus seiner Rolle fiel.
»Wir werden es gleich für ihn herausfinden«, versprach Kitty. Sie wischte sich eine Wimper aus dem Augenwinkel, dann führte sie die Gruppe einige Meter weiter in die Großraumredaktion hinein. Beruhigt stellte Jan May fest, dass die Raumaufteilung mit dem Grundriss übereinstimmte, den der entlassene Wachmann für ein Viertelgramm und eine Spritze aus der Erinnerung heraus für ihn aufgezeichnet hatte.
Der gesamte Radiosender befand sich im neunzehnten Stock des Medien-Centers Berlin, einem neumodischen Glashochhaus am Potsdamer Platz, mit einem atemberaubenden Panoramablick über Berlin. Für den Hauptsitz der Redaktion hatte man sämtliche Zwischenwände des Stockwerkes herausgerissen und stattdessen mit Hilfe cremefarbener Raumteiler und einer Unmenge monatlich wechselnder Mietpflanzen eine Kreuzberger Loftatmo-sphäre geschaffen. Die weißgrauen Massivholzdielen und der dezente Zimtduft, den man der Klimaanlage beimischte, verliehen dem Privatsender etwas Seriöses. Das sollte vielleicht von dem doch eher schrillen Programm ablenken, vermutete Jan und ließ seinen Blick in die rechte Ecke des Stockwerks wandern. Sie war dem »Aquarium« vorbehalten, jenem gewaltigen, gläsernen Dreieck, in dem sich die beiden Sendestudios und die Nachrichtenzentrale befanden.
»Was machen die denn da drüben?«, fragte der übergewichtige Buchhaltertyp mit der Hufeisenfrisur und zeigte auf eine Gruppe von drei Redakteuren in der Nähe der Studios. Sie standen um einen Schreibtisch herum, vor dem ein Mann saß, auf dessen Unterarm ein gelbrotes Flammeninferno tätowiert war. »Spielen die Schiffe-Versenken?«, witzelte er. Okay, Mr. Verwaltungsheini übernimmt also die Rolle des
Clowns in der Gruppe, registrierte Jan. Kitty lächelte höflich.
»Das sind die Autoren der Show. Unser Chefredakteur schreibt noch höchstpersönlich an einem Beitrag, der in wenigen Minuten fertig sein muss.« »Der da ist Ihr Chefredakteur?«, fragte das Pärchen fast gleichzeitig. Die junge Frau zeigte dabei völlig ungeniert mit ihrem langen Fingernagel auf den Mann, von dem Jan wusste, dass er von allen Kollegen wegen seiner pyroma-nischen Neigungen nur »Diesel« genannt wurde. »Ja. Lassen Sie sich von seinem Aussehen nicht täuschen. Er wirkt etwas exzentrisch«, sagte Kitty, »aber er gilt als einer der genialsten Köpfe der Branche und arbeitet fürs Radio, seit er sechzehn Jahre alt ist.«
»Aha.« Ein kurzes, ungläubiges Raunen ging durch die Gruppe, die sich wieder in Bewegung setzte. Ich hab noch nie fürs Radio gearbeitet, werde euch aber gleich an meinem ersten Arbeitstag eine Einschaltquote bescheren wie bei einem WM-Endspiel im Fernsehen, dachte Jan, während er langsam hinter der Gruppe zurückblieb, um seine Waffe zu entsichern.
3.
Der abgetrennte Kopf des Hundes lag in einer schwarzroten Blutlache, etwa einen halben Meter vom Kühltresen entfernt. Ira blieb keine Zeit, sich in dem kleinen Ge-mischtwarenladen nach den sonstigen Überresten des toten Pitbulls umzuschauen. Die beiden Männer, die sich gerade in einer unverständlichen Sprache anschrien und ihre
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