Amokspiel
Waffen aufeinander richteten, nahmen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Für einen Moment wünschte sie, sie hätte die Warnung des Halbstarken am Eingang ernst genommen.
»Ey, Tusse, bist du irre?«, hatte der Deutschtürke ihr zugerufen, als sie sich an ihm vorbei in den Laden drängen wollte. »Die machen dich aus!«
»Und wenn schon«, war ihr einziger Kommentar gewesen, mit dem sie den perplexen Jugendlichen stehen ließ. Zwei Sekunden später befand sie sich im Zentrum einer Standardsituation: ein Konflikt wie aus dem Lehrbuch des Mobilen Einsatzkommandos, das ihr am ersten Tag ihrer Ausbildung in die Hand gedrückt worden war und das für lange Zeit zu ihrer Bibel wurde. Zwei rivalisierende Ausländer standen kurz davor, sich den Kopf wegzuschießen. Den Mann mit dem hassverzerrten Gesicht und der Schusswaffe in der Hand kannte sie. Es war der türkische Ladenbesitzer Hakan. Der andere sah aus wie das Klischee eines russischen Schlägers. Bulliger Körper, gedrungenes Gesicht mit einer plattgeprügelten Nase, weit auseinanderstehenden Augen und ein Kampfgewicht von mindestens einhundertfünfzig Kilo. Er trug Badelatschen, eine Jogginghose und ein dreckiges Feinrippunterhemd, das seine üppige Ganzkörperbehaarung nur spärlich verdeckte. Das Auffälligste an ihm aber waren die Machete in seiner linken Hand und die Pistole in der rechten. Ganz sicher stand er auf der Gehaltsliste von Marius Schuwa-low, dem Oberhaupt des organisierten osteuropäischen Verbrechens in Berlin.
Ira lehnte sich an den gläsernen Kühlschrank mit den Softdrinks und fragte sich, warum ihre Waffe zu Hause auf dem Küchentisch lag. Doch dann fiel ihr ein, dass es heute sowieso nicht mehr darauf ankam. Zurück zum Handbuch, dachte sie. Kapitel Deeskalation, Absatz 2: Krisenintervention. Während die beiden Männer sich weiter anbrüllten, ohne von Ira Notiz zu nehmen, ging sie mechanisch ihre Checkliste durch. Unter normalen Bedingungen müsste sie die nächsten dreißig Minuten damit verbringen, die Situation einzuschätzen, den Tatort absperren zu lassen, um zu verhindern, dass aus der stationären eine mobile Einsatzlage wurde, etwa indem der Russe wild um sich schießend in den Viktoriapark rannte. Normal? Ha! Unter normalen Bedingungen würde sie hier gar nicht stehen. Eine direkte Konfrontation, Auge in Auge und in unmittelbarer Nähe, ohne dass man zuvor auch nur eine Spur Vertrauen zu den Eskalationsparteien aufgebaut hatte, war ein Selbstmordkommando. Und sie wusste ja noch nicht einmal, worum es hier ging. Bei zwei Männern, die sich in verschiedenen Sprachen gleichzeitig anbrüllten, brauchte sie dringend den besten Dolmetscher, den das LKA zu bieten hatte. Und sie müsste sofort durch einen männlichen Verhandlungsführer ausgewechselt werden. Denn auch wenn sie ihr Psychologiestudium und die daran anschließende Ausbildung bei der Polizei mit Auszeichnung bestanden hatte, auch wenn sie seitdem zahlreiche Einsätze als Verhandlungsführerin bei Sondereinsatzkommandos im ganzen Bundesgebiet geleitet hatte, hier, in diesem Moment, konnte sie mit ihren Diplomen und Urkunden den Boden des Kramladens aufwischen. Weder der Türke noch der Russe würden auf eine Frau hören. Das verbot ihnen wahrscheinlich schon die Religion. Und das Motiv.
Meistens ging es in diesem Viertel um irgendeine Macho-angelegenheit, und auch das hier sah nicht nach einer Schutzgelderpressung aus. Sonst wäre der Ukrainer nicht alleine gekommen, und Hakan läge bereits von mehreren Gewehrsalven durchsiebt mit dem Gesicht in der Kühltheke mit dem Feta. Als Ira hörte, wie der Russe den Hahn seines Trommelrevolvers spannte und die Machete fallen ließ, damit er beim Schießen beide Hände zur Verfügung hatte, warf sie einen Blick durchs Schaufenster nach draußen. Bingo. Da haben wir ja das Motiv. Dort stand ein tiefergelegter weißer BMW mit verchromten Felgen und einem kleinen Schönheitsfehler. Sein rechter Front-Scheinwerfer war zersplittert, und die Stoßstange hing auf Halbmast. Ira notierte auf einem imaginären Flipchart die Tatort-Puzzlesteine. Türke. Russe. Machete. Kaputtes Zuhälterauto. Toter Hund. Offenbar war Hakan mit dem Wagen des Russen zusammengeprallt, und der war hier, um das nach »seiner Methode« zu regeln, indem er zur Begrüßung erst mal Hakans Kampfhund den Kopf abschlug. Die Situation ist aussichtslos, dachte Ira. Das einzig Gute war: Außer ihr befand sich kein anderer Kunde in Schussweite, wenn die Ballerei in wenigen
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