An den Rändern der Zeit (German Edition)
perfekt. Sie rollte zu der niedrigen Küchenzeile, wo der Wasserkocher bereits gefüllt auf sie wartete.
Was für ein Glück sie gehabt hatte, dass Varian sie fand … Dieser Gedanke kam ihr mindestens einhundertmal am Tag, es war fast wie Atmen. Sie hätte nicht überlebt ohne ihn, das wusste sie.
… aber der Traum … er hat etwas zu bedeuten, ich weiß es genau. Er war eine verschlüsselte Nachricht!
Bei der Erinnerung an die sterbenden Wale schossen Tränen in Casimirias silberne Augen, doch die X-Konstante verhieß einen kühlen Trost und weckte in ihr den Gedanken an den einzigen anderen Kontakt, den sie außer Varian besaß. Ihr lieber Junge war kaum weg, und schon fühlte sie sich unendlich einsam. Aber es war noch nicht Tag, also musste sie wohl noch etwas warten … Ihr anderer Kontakt war so früh nicht erreichbar.
In langsamen Schlucken schlürfte sie ihren Ingwertee, ließ den Blick durch die Wohnung wandern. Gern hätte sie ein Haustier gehabt, doch Varian lehnte dies ab. Viel zu riskant, mein Schatz. So blieben ihr einzig und allein ihre Seiden- und Plastikgewächse, denn richtige Pflanzen gediehen hier auch nicht, sie gingen alle ein.
Natur. Natur fehlte in ihrem neonsonnigen Heim. Das war kein allzu hoher Preis. Sie hatte die Tiere im Zirkus geliebt, die Menschen gefürchtet – auf beides musste sie nun verzichten. Kein allzu hoher Preis für ihr Leben.
*
B.C.s Heim befand sich in der Verseuchten Zone. Dort dämmerte der Morgen giftmüllgelb, und aus jeder Spalte des Erdbodens quoll das Verderben. Als Immunisierte achtete sie gar nicht weiter darauf. Nur mit extremer Schutzausrüstung konnten andere Leute ihr Terrain betreten, und selbst dann bestand noch Gefahr. Dennoch hatte sie den alten ausrangierten Viehwaggon – er mochte fünfzig Jahre oder noch älter sein – trutzburgmäßig abgesichert, wie immer, wenn sie ihn verließ. Er stand nicht auf Schienen, er stand inmitten einer Wildnis aus riesigem Schachtelhalm.
Wie immer betrachtete B.C. den Eisenbahnwagen mit grimmiger Ironie. „Zone 66“ hatte sie in einem Anfall von Humor mit weißer Farbe auf den dunklen Rost gepinselt. Sie entriegelte ihn mit Hilfe ihres Minirechners (getarnt im Ring an ihrem kleinsten Finger, Marke Eigenbau wie ihre Sonnenbrille), schwang sich hinein und brühte sich als erstes einen Kaffee mit Schwarzem Johannisbeersaft auf. War sie im Workstatus, so warf sie eine Aufputschpille ein, arbeitete eine Stunde an DEM FEHLER und brach dann wieder zum Job auf.
Heute konnte sie sich eine Stunde köstlichen Schlafes gönnen – dringend brauchte sie den, zumal ihr Lunadrogentrip eine weiche Erschöpfung hinterlassen hatte, nachdem das Fieber gewichen war. Fast übermächtig war B.C.s Verlangen, sich sofort auf das schmale Sofa zu werfen, wo ein Haufen karierter Decken lockte.
Aber sie widerstand und trank entschlossen ihr bittersüßes Gebräu. Es kreiste in ihrem Magen wie die Gedanken in ihrem Hirn. Das Amt. Die Zusammenstöße. Ein bisschen viel Pech auf einmal. Ihres Wissens war sie noch nie vom Amt beobachtet worden. Das alles konnte doch kein Zufall sein …? Wenn dem so war, so konnte sie Gegenmaßnahmen treffen. Es gab aber eine noch weitaus schlimmere Möglichkeit: dass es DOCH ein Zufall war. Und wenn das der Fall ist, sagte sie trocken zu sich selbst, dann weißt du auch, wer dahintersteckt.
Abschnitt 6
„Du hast das letzte Rätsel gelöst, Lara. Du bist bereit?“
Ein funkelndes Lächeln breitete sich auf Laras Gesicht aus. Etwas gerädert und verkatert nach der Fete, aber absolut bereit!, dachte sie, neigte aber nur respektvoll den Kopf. Sie war stolz auf ihren glanzvollen Sieg. Die ehern-weibliche Stimme, die soeben zu ihr gesprochen hatte, drang aus einem runden blauen Stein, der auf einer Säule ruhte. Daneben stand eine etwas niedrigere Säule mit dem roten Stein des Hinrichters; alle beide ragten aus einer kreisrunden Mondlandschaft mit dem Namen DIE SCHLUSSARENA und balancierten, wie Lara fand, nur mühsam zwischen Kitsch und Symbolüberfrachtung. Aber das war nebensächlich. Laras Herz klopfte rascher vor Erregung – endlich würde sie Omega 7 verlassen, wirkliche Abenteuer erleben, SIE finden …
„Es gibt recht wenig, was wir noch für dich tun können, Lara“, fuhr die blaue Stimme fort. „Fest steht, dass in der Außenwelt etwas Ungewöhnliches vorgeht, und SIE, die wir alle kennen, hat es ausgelöst. Ihr Unterbewusstsein sandte dir jenen fremden Text. Folge ihm,
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