An einem Tag wie diesem
Wenige, was Andreas wusste, hatte ihm seine Mutter erzählt.
Die Organistin vergriff sich ein paar Mal in den Tasten. Andreas war froh, dass nicht gesungen wurde. Zum Gebet verschränkte er die Hände, ohne sie zu falten. Die Zigarettenkippe ließ er unauffällig zu Boden fallen. Er schloss die Augen nicht und sah vor sich die schwankenden Gestalten der Betenden und wusste nicht, wer lächerlicher war, sie in ihrer Nachahmung eines bedeutungslosen Rituals oder er in seiner Verweigerung.
Während der Trauerfeier war der Sarg auf den Vorplatz gebracht worden. Er stand in der Mitte des Platzes, aber niemand schien ihn zu beachten. Andreas konnte sich nicht vorstellen, dass der Tote etwas mit ihm zu tun hatte. Sein Vater war ein zurückhaltender Mann gewesen, wäre er noch am Leben gewesen, er wäre wohl irgendwo am Rand gestanden, im Schatten einer der Kiefern, und hätte sich die Versammlung angeschaut mit seinem unruhigen und zugleich belustigten Blick. In diesem Moment hatte Andreas nicht getrauert. Die Trauer war erst gekommen, als er wieder zurück in Paris war, in seiner gewohnten Umgebung, mit einer Heftigkeit, die ihn selbst überrascht hatte.
Walter kam auf Andreas zu, er gab ihm die Hand und führte ihn zu seiner Familie. Bettinas Gesicht hatte
einen komplizierten Ausdruck angenommen, für einen Moment wirkte es wie das einer alten Frau. Sie begrüßten sich, und dann trat der Pfarrer zu ihnen und sagte etwas Tröstliches, und die Gäste stellten sich an, um der Trauerfamilie zu kondolieren. Alle machten verzagte Gesichter und taten überhaupt ihr Bestes, ihre Trauer echt erscheinen zu lassen. In Walters Gesicht war wieder der erstaunte Ausdruck von vorhin und manchmal eine künstliche Herzlichkeit, wenn er jemanden begrüßte.
Fabienne und Manuel kamen ganz am Schluss. Als sie an der Reihe waren, hatten die ersten Gäste den Friedhof schon verlassen. Manuel schüttelte Andreas mit einem aufmunternden Lächeln die Hand.
»Schön, dass wir uns mal wiedersehen«, sagte er mit viel zu lauter Stimme.
Fabienne stand neben ihm. Andreas schaute sie an. Sie lächelte, und er hatte wieder Lust, sie zu berühren.
»Dein Vater war ein netter Mann«, sagte sie. Sie sprach Hochdeutsch, ihr Akzent war nur noch ganz schwach.
Andreas küsste sie auf die Wangen und fragte, ob sie und Manuel mit zum Essen kämen. Er wandte sich an Walter und fragte, wo das Trauermahl stattfinde. Manuel sagte, sie könnten leider nicht kommen. Seine Mutter hüte den Jungen. Sie hätten versprochen, zum Mittagessen zurück zu sein. Er lachte ohne Grund. Fabienne fragte, ob Andreas länger hier sei. Er solle sie doch besuchen. Ihr Blick war erwartungsvoll. Als Andreas sagte, er fahre heute noch, glaubte er für einen kurzen Moment, Enttäuschung in ihrem
Gesicht zu sehen. Aber er war sich nicht sicher. Fabienne hatte sich sofort wieder gefasst. Sie sagte, er habe sich nicht verändert.
»Komm uns besuchen, wenn du wieder mal in der Schweiz bist«, sagte sie, »Wir würden uns freuen.« Aber es klang nicht wie eine Einladung.
»Bestimmt«, sagte Andreas. Er ärgerte sich, dass Fabienne wir gesagt hatte und nicht ich.
Nach dem Trauermahl ging er noch kurz zu Walter und Bettina nach Hause. Er war müde vom Wein und von der Hitze. In der Wohnung war es kühl. Sie saßen im Wohnzimmer und sprachen über den Vater. Walter zeigte Andreas einen Stapel alter Schulhefte. Die karierten Seiten waren mit vertikalen Linien in Spalten unterteilt und vollgeschrieben mit Daten und Zahlen.
»Er hat jeden Abend die Höchst- und die Tiefsttemperatur des Tages aufgeschrieben, die Luftfeuchtigkeit und den Luftdruck. Immer zur gleichen Zeit. Eine endlose Liste. Vierzig Jahre lang.«
Andreas sagte, er könne sich an die Hefte erinnern. Er habe nie ganz begriffen, warum der Vater das gemacht habe.
»Ein paar Wochen vor seinem Tod hat er damit aufgehört«, sagte Walter und musste plötzlich weinen. Andreas konnte sich nicht erinnern, ihn jemals weinen gesehen zu haben, und es war ihm peinlich.
Walter hatte sich um alles gekümmert, um die Einäscherung, die Danksagungen, die Testamentsvollstreckung. Andreas hatte Dokumente zugeschickt bekommen, die er unterschrieb, ohne sie durchzulesen. Dann war Walter mit seiner Familie ins Elternhaus gezogen
und hatte Andreas ausbezahlt. Mit dem Geld konnte er sich die Wohnung in Paris kaufen. Er war seither ein paar Mal in der Schweiz gewesen, aber nie mehr im Dorf.
Der Gedanke, dass das Grab aufgehoben werden sollte,
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