An einem Tag wie diesem
wenig.
»Warum?«
»Weil du fertig bist hier. Weil du rausgehst und nie mehr zurückkommst.«
»Ich komme bestimmt zurück. Ich werde meine Klasse besuchen. Ich habe es ihnen versprochen.«
»Mach dir nichts vor.«
Delphine schwieg. Vermutlich wusste sie, dass Andreas recht hatte. Sie würde in einem anderen Schulhaus arbeiten, andere Klassen unterrichten, mit anderen Kollegen ausgehen und sich mit anderen Eltern herumstreiten.
»Es hat keinen Sinn«, sagte Andreas, »man kann nicht zurück.«
Jedes Mal, wenn eine Klasse ging, sagten ein paar der Schüler, sie würden ihn besuchen. Einmal sei tatsächlich einer gekommen, einer seiner Lieblingsschüler. Er habe sich ganz hinten im Klassenzimmer auf einen freien Stuhl gesetzt und eine halbe Stunde lang zugehört. In der Pause sei er verschwunden, ohne sich recht zu verabschieden.
»Ich glaube, es war ihm genauso peinlich wie mir. Ich kam mir vor wie ein Betrüger. Dieselben Geschichten, dieselben Witze. Nur das Publikum hat gewechselt.«
Aus seiner Sicht sei ihre Situation vielleicht beneidenswert, sagte Delphine. Aber sie werde sich an einen neuen Ort gewöhnen müssen, das sei nicht einfach. Sie habe sich hier eingelebt und wäre gern geblieben.
»Weißt du schon, wohin du gehst?«
»Nach Versailles«, sagte Delphine. »Vorausgesetzt, ich habe die Prüfung bestanden. Ich wollte eigentlich zurück in den Süden, wo ich herkomme. Aber dafür hätte ich zweihundertsiebzig Punkte gebraucht. Wenn ich verheiratet wäre und ein paar Kinder hätte, würde es vielleicht reichen.«
Andreas fragte, wo sie wohne. Sie sagte, sie habe in der Nähe ein Mädchenzimmer. Vorher habe sie bei ihren Eltern gewohnt, in Arles.
»Mein Vater ist Gendarm. Ich bin in Kasernen aufgewachsen. Alle paar Jahre sind wir umgezogen.«
Sie wolle wieder in den Süden oder an die Atlanticküste. Irgendwo in die Nähe des Meeres. Sie liebe das Meer. Bei dem Namen, sagte Andreas. Von Arles aus sei es ja nicht weit ans Meer, sagte Delphine. Und in den Sommerferien sei sie jedes Jahr mit ihren Eltern an die Atlantikküste gefahren. Die Gendarmerie habe einen Campingplatz in der Nähe von Bordeaux. Das sei das Paradies.
Als sie aus dem Schulhaus traten, war der Schüler verschwunden, den Andreas vorhin vom Fenster aus beobachtet hatte.
»Ich muss in die Richtung«, sagte Delphine und zeigte die Straße hinunter. Andreas sagte, wenn sie nichts dagegen habe, begleite er sie ein Stück. Er habe keine Lust, nach Hause zu gehen.
Langsam gingen sie nebeneinander her. Delphine erzählte von ihrer Klasse und von den Zulassungsprüfungen, die schwierig gewesen seien. Andreas fragte, ob sie diesen Sommer an den Atlantik fahre.
»Ende Juli«, sagte sie, »erst muss ich mich um eine Wohnung kümmern in Versailles.«
Sie tranken einen Aperitif in einem Bistro. Sie standen an der Bar, dann setzten sie sich an einen der kleinen Tische. Ihre Beine berührten sich wie zufällig. Andreas betrachtete Delphine. Sie war bleich und hatte unreine Haut, aber ein hübsches Gesicht. Ihr dunkles Haar war kurz geschnitten und kaum frisiert. Sie war nicht sehr schlank, aber sie sah sportlich aus.
Sie schwiegen. Delphine schaute Andreas in die Augen, lächelte und senkte den Blick. Sie sagte, sie wohne gleich um die Ecke. Das Zimmer sei winzig. Andreas sagte, das Zimmer, in dem er während seines ersten Jahres in Paris gewohnt habe, sei nicht viel größer gewesen als das Bett, das darin stand.
»Das war in einem dieser billigen Hotels in der Nähe der Bahnhöfe, die großartige Namen haben, aber erbärmliche Zimmer. Meins hieß
Hotel de la Nouvelle France
. Ich bin kürzlich zufällig durch die Straße gekommen. Das Hotel gibt es nicht mehr. Das Gebäude wurde entkernt. Das Schild mit dem Namen ist noch da, aber es steht nur noch die Fassade.«
Er war nicht zufällig am Hotel vorbeigekommen. Er war in einem Anfall von Nostalgie in das Viertel gegangen, ohne recht zu wissen, was er dort suchte. Äußerlich hatten sich die Straßenzüge nicht verändert, aber außer der Bäckerei neben der Metrostation hatte er
kein Geschäft und kein Restaurant wiedererkannt. Über der Tür seiner Stammkneipe war noch immer das Schild,
Le Cordial
, aber im Fenster hing ein verstaubtes Stück Pappe, auf dem
Fermé
stand. Wenn Andreas in jenem ersten Jahr von seinen nächtlichen Streifzügen zurückgekehrt war, waren die Vorhänge des Lokals zugezogen gewesen, und nur ein schmaler Lichtstreifen verriet, dass noch jemand da war. Dann
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