An einem Tag wie diesem
versuchte sich vorzustellen, er liege am Strand in der Sonne, aber das laute Knattern des Geräts riss ihn immer wieder in die Realität zurück.
Das Wetter wurde besser und damit auch Andreas’ Stimmung. Der Arzt hatte ihm Medikamente verschrieben, und der Husten ließ etwas nach. Er hatte die Angelegenheit fast vergessen, als er zehn Tage später wieder einen Termin hatte. Noch bevor er sich gesetzt hatte, sagte der Arzt, die Resultate seien beunruhigend. Er hielt die Aufnahmen von Andreas’ Lunge gegen das Fenster und zeigte mit einem silbernen Kugelschreiber auf eine Stelle zwischen den Lungenflügeln.
»Es ist möglich, dass es sich nur um Vernarbungen einer Tuberkulose handelt.«
Er setzte sich und drehte den Kugelschreiber in den Händen. Er wolle zur Sicherheit eine Gewebeentnahme machen lassen, sagte er, ein kleiner Eingriff, der ambulant durchgeführt werden könne.
»Man macht oberhalb des Brustbeins einen kleinen Schnitt und führt eine Sonde ein. Sie werden nichts spüren.«
»Was könnte es sonst sein?«, fragte Andreas.
Der Arzt sagte, er solle sich keine Sorgen machen. Andreas fragte, wie die Chancen stünden. Der Arzt sagte, es habe keinen Sinn, von Chancen zu sprechen.
»Es gibt nur ein Entweder-oder. Man hat es, oder man hat es nicht.«
Er stand auf, steckte den Kugelschreiber in die Brusttasche seines Kittels und gab Andreas die Hand. Er sagte, er bedaure es, keine besseren Nachrichten zu haben.
Andreas stand im leeren Klassenzimmer. Aus dem Flur waren die schnellen Schritte und die Schreie der Schüler zu hören, die nach Hause gingen. Er erinnerte sich an seine eigene Schulzeit, an den letzten Tag vor den Sommerferien, und wie die anderen Kinder nach Schulschluss in alle Richtungen zerstoben waren. Die Eile, mit der sie verschwunden waren, als hätten sie ein Ziel. Sein bester Freund grüßte kaum, bevor er davonrannte, und Andreas fühlte sich verraten. Er hatte getrödelt, langsam war er nach Hause gegangen mit der großen Mappe aus dickem Papier, in der die Zeichnungen lagen, die er das Jahr über gemacht hatte. Die Mappe war viel zu groß für ihn, er musste sie auf beiden Armen tragen, damit die Zeichnungen nicht herausrutschten. Damals waren die Sommer unendlich lang gewesen, bedrohlich lang, und der Anfang des neuen Schuljahres schien unvorstellbar weit entfernt.
Er räumte seine Sachen zusammen. Auf dem Pult stand ein kleiner Blumentopf, eine gelbe Primel, die er von einer seiner Schülerinnen zum Abschied geschenkt bekommen hatte. Der Topf war mit Aluminiumfolie umwickelt. Andreas zögerte einen Augenblick, dachte daran, die Pflanze mit nach Hause zu nehmen. Dann ließ er sie stehen. Er stellte sich vor, wie sie, sich selbst überlassen, langsam verwelken würde. Im Herbst würden
andere Kinder hier sitzen und scheu den neuen Lehrer beobachten.
Er verstaute Bücher und Papiere in den Schubladen und in seiner Mappe. Dann nahm er die Poster von den Wänden, die Collagen und Schautafeln, die die Schüler das Jahr über gemacht hatten. Das politische System Deutschlands, Deutsche Küche, Das Leben Johann Sebastian Bachs. Er rollte die Blätter zusammen und steckte sie in den Papierkorb.
Er ging durch das leere Schulhaus. Er schaute aus einem der hohen Fenster hinunter auf den Schulhof. Einer seiner Schüler saß auf einer Bank und blickte immer wieder unruhig zum Eingang des Schulhauses. Es war der Junge, der in die Schlägereien verwickelt gewesen war. Andreas fragte sich, worauf er wartete, weshalb er nicht nach Hause ginge. Der Schüler rührte sich nicht von der Stelle.
Im Lehrerzimmer standen noch die weißen Plastikbecher vom Aperitif in der Mittagspause. Andreas räumte die Becher weg, die schmutzigen Servietten und angebissenen Brötchen. Er schenkte sich etwas Weißwein ein und nahm einen Schluck. Der Wein war lauwarm und schmeckte sauer. Es klopfte, die Tür öffnete sich, und Delphine steckte den Kopf herein.
»Niemand mehr hier?«, fragte sie.
»Bin ich niemand?«
»Ich wollte mich verabschieden«, sagte Delphine. »Heute ist mein letzter Tag.«
»Komm herein«, sagte Andreas. Er reichte ihr einen Becher und schenkte ein. Delphine nahm einen Schluck und schüttelte sich.
»Ekelhaft«, sagte sie. Aber sie trank trotzdem weiter. Als sie Andreas helfen wollte, den Tisch abzuräumen, hörte er auf und sagte, der Hausmeister werde sich darum kümmern.
»Gehst du nicht nach Hause?«, fragte sie.
»Gleich«, sagte Andreas. Er sagte, er beneide sie ein
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