An einem Tag wie diesem
irritierte ihn. Einen Moment lang dachte er daran, hinzufahren. Dann unterschrieb er das Formular und steckte es in einen Umschlag. Er suchte nach einer passenden Postkarte. Schließlich wählte er ein Bild von Gauguin, ein Dorf in der Bretagne, in warmen Farben. Er schrieb, er habe leider keine Zeit, in die Schweiz zu kommen. Er lasse die Familie grüßen und wünsche alles Gute. Er brachte den Brief gleich zur Post. Er wollte die Angelegenheit erledigt haben.
Andreas traf sich mit Nadja und Sylvie, er kaufte ein, putzte die Wohnung, ging ins Kino. Die Schüler waren schwierig, und Andreas hatte zum ersten Mal in all der Zeit keine Freude mehr an seinem Beruf. Als sich die Klasse wieder einmal über eine Prüfung beklagte, hielt er ihr eine Standpauke. Ob sie denn meinten, er mache das alles, um sie zu quälen? Er mache es für sie. Er habe ein Konzept und ein Ziel. Er habe diesen Beruf nicht zufällig gewählt, er sei Lehrer aus Überzeugung. Er sagte, er glaube daran, dass Bildung den Menschen veredle. Und dass sie die Chance hätten, hier etwas zu lernen, während andere für den Rest ihres Lebens irgendeiner stumpfsinnigen Arbeit nachgehen müssten. Die Kenntnis der deutschen Sprache, sagte er, würde ihnen die Tür zu einer Welt des Geistes öffnen, insbesondere zur Philosophie, die ohne
Deutschkenntnisse nicht zu verstehen sei. Das Deutsche sei eigentlich die Sprache der Philosophie, es sei von einer Klarheit und Reinheit wie kaum eine andere Sprache und dabei doch ...
Je länger er sprach, desto hohler schienen ihm seine Worte. Er betrachtete seine Schülerinnen und Schüler, die in ihren Stühlen hingen und tuschelten und kicherten und sich unter seinen Blicken duckten. Mitten im Satz brach er ab und setzte sich.
Von diesem Tag an sah er die Klassen mit anderen Augen. Er machte sich keine Illusionen mehr, irgendeinen Einfluss auf sie zu haben. Selbst die guten Schülerinnen, die fleißigen Schüler, die sich bemühten, die ihre Hausaufgaben gewissenhaft machten und aktiv am Unterricht teilnahmen, reizten ihn. Sie erinnerten ihn an sich selbst und an das, was aus ihm geworden war.
Er ging nicht mehr gern zur Schule. Er litt unter der Monotonie der Tage und fühlte sich müde und ausgebrannt. Im Lehrerzimmer gab es endlose Diskussionen über das Kopftuchverbot, obwohl es an der Schule kaum Musliminnen gab und das Kopftuchtragen noch nie ein Problem gewesen war. Es bildeten sich zwei Lager. Andreas wollte sich weder ins eine noch ins andere schlagen. Es schien ihm, als gehe es in beiden nur darum, alte Rechnungen zu begleichen. In der Schweiz, wagte er einmal zu sagen, gehe man mit solchen Problemen gelassener um. Danach wurde er von beiden Seiten angegriffen, von den einen als Rassist bezeichnet und von den anderen misogyn genannt. Selbst Jean-Marc war plötzlich politisch und verteidigte
die Werte der Republik, um die er sich vorher nie geschert hatte.
Die Frühlingsferien verbrachte Andreas in der Normandie. Er hatte sich wieder einmal vorgenommen, Proust zu lesen, aber dann saß er tagelang im Hotel und schaute fern oder las Zeitungen und Magazine, die er jeden Morgen am Bahnhofskiosk kaufte. Er verbrachte eine Nacht mit einer allein stehenden Lehrerin, die er am Strand getroffen hatte, auf einem seiner langen Spaziergänge. Ihre großen Brüste hatten ihn fasziniert, und er lud sie zum Abendessen ein. Er musste sehr lange reden, bis er sie dazu bringen konnte, mit auf sein Zimmer zu kommen, und dann redeten sie noch einmal sehr lange und tranken die Minibar leer. Während sie miteinander schliefen, stöhnte die Frau immer wieder laut seinen Namen, was ihn irritierte. Er war froh, dass sie nicht mehr da war, als er am späten Vormittag erwachte. Sie hatte ihm eine Notiz geschrieben, die er kurz überflog und dann mit einem Gefühl des Überdrusses wegwarf.
Im Mai wurde es noch einmal kalt, und Andreas holte sich einen Schnupfen, der zu einem hartnäckigen Husten wurde. Nach drei Wochen hatte der Husten noch immer nicht nachgelassen, und Andreas ging zum Arzt. Der Arzt hörte seine Lunge ab und sagte, er wolle zur Sicherheit eine Computertomographie machen lassen. Andreas rief im Krankenhaus an und ließ sich einen Termin geben am Mittwochnachmittag. Als Sylvie anrief, erfand er eine Ausrede. Sie lachte und fragte, ob er eine andere Freizeitbeschäftigung gefunden habe.
Die Tomographie dauerte nicht lange und war weniger schlimm, als Andreas sie sich vorgestellt hatte. Er schloss die Augen und
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