Analog 02
die Fenster pochte, begab ich mich zum Schreibtisch meines Vaters.
Der Donner verzog sich, daher schaltete ich die Schreibtischlampe ein. Es war immer noch früher Nachmittag, aber finster. Ich setzte mich in den Sessel und betrachtete den Terminkalender – eines von diesen Dingen, wo jeder Tag eine Seite hat. Ich las: Mittwoch, 2. Juli 1980. Das war der Tag, an dem er gegenüber, in der Bücherei, gestorben war. Ansonsten war das Blatt leer. Abwesend blätterte ich weiter, bis ich beim 30. Juli 1980 angekommen war, dem Tag, an dem sein Sohn endlich, den Anweisungen eines Anwalts folgend, angekommen war, um das Erbe von Nathan B. Hall zu begutachten. Auch dieses Blatt war leer.
Auf dem Schreibtisch stand ein Telefon, und ich nahm den Hörer ab um herauszufinden, ob man die Leitung gesperrt hatte. Das Freizeichen. Der Mann ist tot, aber sein tägliches Einerlei existiert weiter. Ich wählte die Nummer des Anwalts und wartete. „Wayne and Bowman, Rechtsanwälte. Kann ich Ihnen helfen?“
„Ja. Hier spricht Jay Hall. Ich hätte gerne Mr. Bowman gesprochen.“
„Er ist gerade außer Haus. Darf ich ihm eine Nachricht hinterlassen, Mr. Hall?“
„ Hören Sie, ich soll die Hinterlassenschaften meines Vaters zusammensuchen . Wegen des Testaments, wissen Sie. Aber hier gibt es nichts, was man zusammensuchen könnte.“ Ich befingerte eine gerahmte Münze, die auf dem Schreibtisch stand. Es war ein gewöhnlicher Vierteldollar aus Washington, Prägejahr 1978. Ein echtes Sammlerstück. „Die Möbel sind gemietet, und alles andere ist Ramsch. Und nicht mal besonders viel.“
„Einen Augenblick, Mr. Hall.“ Ich hörte endloses Papiergeraschel im Hintergrund. „Nur eine Formalität, Mr. Hall. Der letzte Wille Ihres Vaters verlangt ausdrücklich, daß Sie seine Arbeiten untersuchen. Nur durchsehen, ob etwas von Wert dabei ist. Vielleicht etwas von persönlichem Wert.“
Ich zuckte die Achseln. „Danke.“
„Soll Mr. Bowman Sie zurückrufen?“
„Nein. Vielen Dank.“ Ich legte den Hörer wieder auf und betrachtete den Vierteldollar in dem billigen Trödlerrahmen. Der Rahmen mußte mehr gekostet haben als die Münze wert war.
Ich rieb mir die Augen und bedauerte es ein wenig, daß mein Vater ein solches Geheimnis für mich war. Sämtliche alten Klischees fielen mir ein: Man vermißt sie erst, wenn sie nicht mehr da sind, und so weiter. Er war kein geheimnisvoller Mensch. Ich hatte mir einfach nie die Mühe gemacht, ihn kennenzulernen. Er war ein eingestaubter, verknöcherter alter Mann, der ein eingestaubtes, verknöchertes Fach unterrichtet hatte. Er war im Englisch der sechsten Klasse aufgegangen. Ich konnte damit weder in dieser, noch in einer anderen Klasse etwas anfangen. Mich interessierte Geologie, aber als ich versuchte, meinen Vater dafür zu interessieren, indem ich ihm erzählte, wie die Berge um Pennsylvania aus dem Meer aufgestiegen und dann gewandert waren, hatte er lediglich den Kopf geschüttelt und gesagt: „Jay, davon möchte ich lieber nichts hören.“ Es besorgte ihn zu wissen, daß diese Berge einst unter Wasser gewesen waren und eine Zeit kommen würde, wo sie überhaupt nicht mehr existierten. Die Erde meines Vaters war eine solide, unveränderliche Einheit, und so sollte es für ihn auch bleiben.
Ich hatte über ihn gelacht. Mein Vater war das Musterbeispiel des Pioniers, der ein Grundstück nur betritt und damit verkündet: „Dieser Teil des Universums gehört mir – für immer.“ Und ich hatte versucht, ihm zu erklären, was die gewöhnliche Geotektonik seinem „für immer“ antat. Er hatte nichts davon hören wollen.
Während ich nun, achtunddreißig Jahre alt, den Vierteldollar ansah, verstand ich etwas mehr von der Unbehaglichkeit meines Vaters angesichts geologischer Veränderungen. Fortwährende soziale Umbrüche gingen über die Welt dahin, Mt. St. Helens entfesselte immer noch die Hölle im Süden des Staates Washington, während die Russen immer noch die Hölle in Afghanistan entfesselten. Aus den Tausenden kubanischer Flüchtlinge wurden Dutzende schließlich aussortiert, doch Rassenunruhen sorgten wieder für eine Polizistenjagd im Stile der sechziger Jahre in Miami und Chattanooga. Die Kambodschaner, die Rezession, der Wahnsinn politischer Parteitage … der Schah war am Tag zuvor gestorben, doch der Imam hielt immer noch amerikanische Geiseln fest. Ich spielte immer noch russisches Roulette, indem ich rauchte, obwohl mein Herzinfarkt noch kein Jahr zurücklag.
Weitere Kostenlose Bücher