Die geheime Stunde
[home]
1
I n der Küche herrschte Stille. Die Kinder bemühten sich nach besten Kräften, ihr Scherflein beizutragen. Am Frühstückstisch sitzend, mit dem Rücken zu der kleinen Bucht, versuchte John O’Rourke, sich auf den Schriftsatz zu konzentrieren, an dem er die ganze Nacht gearbeitet hatte. Maggie strich Butter auf eine Scheibe Toast und schob sie ihm über den Tisch zu. Er nahm sie mit einem dankbaren Kopfnicken entgegen. Teddy war in die Sportseiten der Zeitung vertieft, runzelte die Stirn angesichts der Ergebnisse, als hätten seine Mannschaften ohne Ausnahme verloren. Brainer, der Hund, lag unter dem Tisch und knurrte selig, während er an einem alten Tennisball kaute.
»Dad«, meldete sich Maggie zu Wort.
»Was ist?«
»Hast du schon zu Ende gelesen?«
»Noch nicht ganz.«
»Hat es mit Merrill zu tun?«
John ließ sich Zeit mit der Antwort, aber sein Magen verkrampfte sich. Er überlegte, was seine elfjährige Tochter über Greg Merrill wissen mochte, seinen zeitaufwändigsten Mandanten, den Wellenbrecher-Mörder, Star im Todestrakt von Connecticut und Thema Nummer eins in sämtlichen Bars und Gerichtssälen weit und breit. John wollte, dass die Leute darüber redeten; das war Teil seiner Verteidigungsstrategie. Aber er wollte nicht, dass seine Tochter die schaurigen Einzelheiten erfuhr.
»Ja, Liebes«, antwortete er und ließ den Schriftsatz sinken.
»Wird er hingerichtet, Dad?«
»Das weiß ich nicht, Maggie. Ich werde versuchen, es zu verhindern.«
»Aber er verdient es«, warf Teddy ein. »Er hat die Mädchen umgebracht.«
»Jeder muss so lange als unschuldig gelten, bis seine Schuld erwiesen ist«, belehrte ihn Maggie.
»Er hat es selbst zugegeben.« Teddy ließ die Sportseiten sinken. »Er hat ein Geständnis abgelegt.« Mit vierzehn war er groß und stark für sein Alter. Seine Augen blickten zu ernst, sein Lächeln war nur noch ein Schatten des Strahlens, das vor dem Tod seiner Mutter sein Gesicht erhellt hatte. John, der ihm gegenüber an dem geräumigen Eichentisch saß, fand, dass er einen ausgezeichneten Staatsanwalt abgeben würde.
»Stimmt«, räumte John ein.
»Er hat schlimme Dinge getan – Mädchen ermordet, Familien zerstört. Deshalb verdient er die Strafe, die über ihn verhängt wurde. Das sagt jeder, Dad.«
Draußen ging ein Wind und das Herbstlaub rieselte von den Bäumen hinab.
John starrte seinen Schriftsatz an. Er dachte an das Geständnis, den Urteilsspruch – Tod durch Giftspritze – und die Monate, die Greg Merrill bereits im Todestrakt verbracht hatte; und er dachte an seine derzeitige Strategie – dem Obersten Gerichtshof von Connecticut überzeugend darzulegen, dass der Fall Merrill neu aufgerollt werden sollte.
»Familien zerstört?«, fragte Maggie.
»Ja.« Teddy warf seiner Schwester einen raschen Blick zu. »Aber keine Bange, Maggie. Er sitzt jetzt hinter Schloss und Riegel. Er kann niemandem mehr gefährlich werden. Die Öffentlichkeit will, dass es dabei bleibt, deshalb hat unser Telefon mitten in der Nacht zehnmal geklingelt – obwohl wir eine Geheimnummer haben. Du solltest hören, wie die Leute hinter unserem Rücken tuscheln. Sie wollen, dass du die Verteidigung niederlegst, Dad.«
»Schon gut«, erwiderte John leise.
»Aber das ist sein Beruf!« Maggies Augen füllten sich mit Tränen. »Warum gibt man ihm und
uns
die Schuld daran, dass er nur seine
Arbeit
verrichtet?«
»Es ist nicht deine Schuld, Mags.« John sah in ihre seelenvollen Augen. »Aber in diesem Land hat jeder Mensch gewisse Rechte.«
Sie antwortete nicht, doch sie nickte.
John atmete langsam ein und aus. Das war seine Heimatstadt, aber er bekam die Empörung seiner Freunde, Nachbarn und Wildfremder gleichermaßen zu spüren. Am schlimmsten war für ihn, dass seine Kinder darunter leiden mussten.
Als springender Punkt im Fall Merrill hatte sich stets die Frage erwiesen, ob er zum Zeitpunkt der Taten voll zurechnungsfähig und somit schuldfähig gewesen war; John plante, die Verteidigung auf der Beweisführung aufzubauen, dass Greg unter einer schwerwiegenden mentalen Störung litt, die seine physische Fähigkeit beeinträchtigte, sein Verhalten zu kontrollieren. Die erste Amtshandlung als Merrills Pflichtverteidiger hatte darin bestanden, einen der führenden Psychiater des Landes zu engagieren – um seinen Mandanten zu untersuchen und die Verteidigung mit seinem Gutachten zu untermauern. Johns undankbare Arbeit würde, wie er hoffte, damit enden, dass Merrill
Weitere Kostenlose Bücher