Analog 6
dem Holz. Die Dunkelheit wurde mir unheimlich. Karnev, die Hebamme der Schiffe, war verschwunden. Ein Schatten stellte mir sein bestes Essen auf den Tisch. Ein Schatten baute Schiffe mit nicht mehr Geschick als der blutigste Anfänger.
Ich stand auf.
„Ich gehe wohl besser jetzt“, sagte ich.
„Es tut mir leid, wenn ich Euch gekränkt habe“, sagte er. Die neuen Worte traten voller Bitterkeit aus seinem Mund. Er zögerte.
„Schiffbauer“, sagte er, „Ihr habt Euren Rumpf hiergelassen.“
„Das ist wohl richtig.“ Ich hatte ihn am Tag des Wettstreits hiergelassen und ihn nie zurückverlangt.
„Schiffbauer, darf ich Euren Rumpf behalten?“
Ich war überrascht, und meine Überraschung machte mich unverzeihlich unhöflich.
„Warum?“
„Um ihn zu respektieren.“
„Ihn respektieren! Was meinst du damit?“
„Es ist der beste Rumpf, den es gibt. Ich möchte ihm meine Ehrerbietung erweisen. Ich möchte Euer Schüler werden.“
Zuerst dachte ich, er wolle mich verspotten. Ich fühlte mich so schuldig, daß mich das mit Zorn erfüllte. Er verspottete mich jedoch nicht. Er zeigte eine echte Bescheidenheit, die mich anwiderte. Ich mußte dieser Farce, dieser Perversion, entkommen.
„Behalte ihn“, sagte ich ihm mit mühsam gleichmütiger Stimme. „Er gehört mir nicht; ich habe nie Hand an ihn gelegt. Er gehört dir, wenn ich ihn nur nie wiedersehen muß.“
Ich blieb in der Tür stehen und sah dramatisch zurück.
„Er macht mich krank“, sagte ich zu ihm und ging.
Ich sah Karnev in diesem Sommer nicht wieder. Auch während des ganzen Herbstes bekam ich ihn nicht zu Gesicht. Die Wolken veränderten sich, die Winde drehten. Ich begleitete die Handelsschiffe zum Kontinent. Ich lernte zu fischen, meinen Rücken über Silbernetze zu beugen. Ich traf Karnev nicht, und das Meer erhob sich. Die Jahreszeit der Stürme hatte die Inseln gepackt, und ich kauerte mit den Männern in niedrigen Zeremoniehallen, während der Regen auf die konischen Dächer trommelte. Mein Schiff konnte nur noch manchmal von den Bergen im Osten als Glitzern ausgemacht werden, wie es sich auf Wellen hob und senkte, die nicht zu überbrücken waren.
Gegen Ende dieser Jahreszeit ohne Ende findet auf jeder Insel der Inselgruppe eine größere Feier statt, die in dem zentralen Dorf abgehalten wird und eine Woche dauert. Während dieser Feier wird die Statusabstufung vorgenommen, und die Regierungsämter werden vergeben. In dieser Woche, kurz vor dem Eintritt in die Zeit der Arbeit, werden die losen Fäden der Gesellschaft der Inseln wieder enger geknüpft, und das Haus wird für ein weiteres Jahr in Ordnung gebracht.
Ich war endlich in einem Dorf an der Ostküste zur Ruhe gekommen, jenseits aller Sorgen wegen meines Rufs untergebracht und von den Ereignissen isoliert, die ihn mir verdient hatten. Als ich mich jedoch der Pilgerfahrt zu dem jährlichen Fest anschloß, hoffte, ja erwartete ich, Karnev dort wiederzusehen. Vielleicht würde das ärgerliche Ereignis, das mich fortgeführt hatte, adäquat verarbeitet werden können und alles, sowohl was ihn als auch was jene Ecken der Gesellschaft betraf, die von meinem irregeleiteten Experiment berührt worden waren, zur Normalität zurückkehren. Das war meine Hoffnung gewesen, denn ich bin trotz aller gegenteiligen Beweise ein ordentlicher Mensch. Selbst damals rührte sich in mir dieser Impuls, selbst in den ungestümen, undisziplinierten Tagen meiner ersten Feldstudie. Ich wollte erreichen, daß die Lage wieder in den Zustand zurückversetzt wurde, in dem sie sich vor meiner Ankunft befunden hatte, denn all meine Gedanken wurden von dem Wissen überlagert, daß jetzt, mit dem baldigen Beginn des Kalenderjahrs 3540, für mich die Zeit der Abreise gekommen war.
Ich hatte die Stadt seit Monaten nicht gesehen, und bei meiner Rückkehr grub sich jede Ecke, jede Farbe, jede Gestalt und jeder Schatten mit der Klarheit eines Lebens in meine Augen, das bald für immer verloren sein würde. Aber solch ein Abschied! Während ich hier zugegen gewesen war, hatte die Stadt gearbeitet, hatte sich angestrengt und geschwitzt, während die Sonne auf sie herabschien – und jetzt spielte die Stadt.
Jede Straße war eine riesige Bude, durch die der ruhelose Regen Abfall und Fruchtschalen spülte. Kinder stauten Ströme mit ihren Füßen und glänzten in plötzlich auffunkelnden Sonnenstrahlen. Stimmen stiegen auf und verschlangen sich über unseren Köpfen, beharrlich wie die Wellen,
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