Anarchy in the UKR
hängen, wir ziehen uns Wodka mit Bier rein, ab und zu klettert einer durchs Fenster auf die Feuerleiter und steigt nach oben, hinter ihm, im Zimmer, hört man die unzufriedene Stimme von Neil Young, alles live, alles echt, wir sind neunzehn, zwanzig und haben es einfach drauf, nie wieder werden wir es so draufhaben – ungestraft, echt, live.
Die Illusion, die dir laute Musik gibt, die Euphorie, die dich erfüllt, wenn du neben den riesigen schwarzen Boxen stehst, raubt dir für immer die Orientierung, verdreht dir die Knochen, Musik geht vor allem auf den Rücken, danach kannst du nicht mehr wie früher durch die Straßen laufen, bis mittags in deinem warmen Bett schlafen und dich unterm Kopfkissen vor den Sonnenstrahlen verstecken – die Musik verkrüppelt dich, verknotet deine Sehnen, treibt Korkenzieher und Holzschrauben hinein, mit denen sie dich von nun an unter Kontrolle hat, implantiert dir Tausende Rezeptoren, Tausende blanker Klemmen und abgeschraubter Steckdosen, ständig donnern fremde Energieströme durch dich hindurch wie mit Eisen beladene Züge, fremdes Blut durchströmt dich – schwarz und heiß; die Musik, die du einmal gehört hast, verändert die Farbe deiner Haut, verengt deine Pupillen, deine Lippen werden rissig, die Stimme schrill und die Lungen anfällig, sie weitet die Venen und jagt den trockenen Tafelwein hinein – jedesmal, wenn du deine Musik hörst, verlierst du das Gleichgewicht und fällst aus dem äußeren, für dich vollkommen neutralen Klangraum heraus in die alptraumartige Unterwasserwelt deines persönlichen Sounds, und zwar solange du lebst. Wie oft mußte ich hinterher an der Stille und der Verzweiflung sterben, wie oft fehlte es mir an elementarer Geduld, an Takt, wie oft hatte ich keinen Bock, das zu tun, was ich hätte tun müssen, so daß ich schließlich drauf und dran war, es auf jemand anderen zu schieben, irgend jemand muß doch die Verantwortung dafür übernehmen, irgend jemand muß doch verantwortlich sein für meine Grundschulausbildung, für die mir vermittelten Grundbegriffe und -termini, die ich hätte benutzen sollen auf meinem Weg durch die festen Schichten der Atmosphäre. Und wer? Er, ja genau, nur er – der schlaue, ewig mit allem unzufriedene Neil Young, in seinen exakt am Knie aufgerissenen Jeans, mit seinen tausend Boxen und dem Gitarrenbrimborium, mit seinen Haaren, die ihm schon ausfielen und in den Waschbecken der Hotels zurückblieben, ja genau, wer weiß, ob nicht er, sein nervtötendes Gekrächze, seine fünfzig Platten mit der authentischen Musik und den Covers mich im entscheidenden Moment traumatisiert haben, als mein Herz Informationen verschlang wie eine Boa ein totes Kaninchen, wer, wenn nicht er, soll die Rechnung für meine Erziehung begleichen, als wäre weiter nichts dahinter gewesen, nur Musik, als hätte man in seiner Stimme die Drohungen und das Fluchen nicht gehört und in seinem Freedom nur die gewöhnliche Prophetie, wie man sie kennt, mit Blut, Leichenbergen und dem obligatorischen Sieg.
So oder so hängt alles an der Musik – deine Bekanntschaften und deine schlechten Gewohnheiten, wie du im Bett bist und wen du wählst und ob du überhaupt wählen gehst. Das Musikformat ist in Wirklichkeit ein Verhaltensformat, es kommt dir nur so vor, als wärst du es, der seine Musik und seine Klamotten auswählt, einen Arbeitsplatz sucht, die Sender durchgeht und haltmacht, wenn ihm etwas interessant scheint. Du vertraust zu sehr den eigenen Gefühlen, der eigenen Intuition, die dich immer wieder täuscht, und du machst dir nicht klar, daß es in Wirklichkeit die Sender sind, die dich ein- und umschalten, daß du geführt und hierhin und dahin geworfen wirst, daß die seinerzeit in dich investierte Information später auf jeden Fall Dividenden bringt, nur daß sie nicht an dich ausgezahlt werden. Alles hängt an der Musik, plötzlich beginnst du, dich für fremde Ideen zu begeistern, sie auf dein Territorium zu lassen, du ordnest dich einem fremden Rhythmus unter, verfällst ihm, paßt ihm deine Mimik und deine Bewegungen an, und die Verantwortlichen sind unauffindbar – niemand verbietet den Blues, weil er dir die Gelenke ruiniert hat, niemand bringt Neil Young in Texas auf den elektrischen Stuhl, weil dir von seiner Gitarre die Zähne ausfallen. Freedom, sagt Neil Young, und zeigt dir fuck. Freedom, bestätigt das Geschworenengericht und geht in die Mittagspause. Freedom, stimmst du traurig zu und suchst deinen Zahnarzt auf.
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