Anarchy in the UKR
stellen es so an, daß ich nichts bemerke. Verstecken sich hinter ihren Marken und musikalischen Fachbegriffen, schicken Werbespots und erfahrene Promoter vor, füllen fleißig und routiniert den Äther, wie Mutter früher den Korb mit Sandwiches gefüllt hat, fürs Picknick im Grünen. Wahrscheinlich werde ich von ihrer Arbeit gar nichts mitbekommen, nur daß ich eines Morgens in einer total feindlichen Stadt aufwache, in einer Luft, die sie mit ihrer Musik und Agitation okkupiert haben und in der kein Raum mehr ist für meine Manöver, und ich mich nicht einmal mehr erinnern kann, wie das alles früher aussah, bevor die Musik mich in eine Depression stürzte und die Pausenzeichen Muskelschmerzen hervorriefen. Sie ändern alles – die Erkennungsmelodie der Programme, die Stimmen der Moderatoren, sie mischen dem normalen Klang immer mehr Plastik bei, immer mehr Musikersatz, entfernen alle überflüssigen Details, alle zusätzlichen Funktionen, sie werden ihre Musik säubern und reinigen wie den Leib eines Wals, alle heißen, lebendigen Mechanismen herauskratzen, auf die ich immer angesprungen bin, und übrig bleibt eine leere, stumpfe Kugel, die über mir schwebt, kalt glänzend, mit einem synthetischen Strahl wie die wahre Sonne, wie das heiße Herz, das man einem kühnen Jugendlichen aus der Brust reißt.
Die Liebe zur Musik paßt in kein System, und sie wissen das, sie wissen, wenn sie den Äther besetzen und mir keine Wahl lassen, daß sie dann mit den entsprechenden Handlungen und Entscheidungen meinerseits rechnen können. Am leichtesten läßt man sich beim Rhythmus gleichschalten, gründlich und zielsicher, mit meiner passiven Teilnahme und äußeren Anwesenheit – sie legen mit ihren Hörnern und Sackpfeifen los, ich habe mich ohne Widerrede dem weitverzweigten systemischen Netz der Verdauung musikalischer Töne anzuschließen, einem subkutanen Funktionsmodell des Lauts als Aggressionen erzeugendem Faktor, als Form psychischer Abhängigkeit, der Stimme als Reizfaktor aller schmerzenden, offenen und ungeschützten Körperteile; Musik ist mehr oder weniger die rhythmisierte Bedrohung meiner Freiheit, meines Appetits und aller meiner inneren Prozesse, die Verdauung eingeschlossen. Sie kennen meine Schwachstellen, sie verfolgen mich auf meinen Hauptstrecken; mit Stimmen und Trommelwirbel weisen sie mich in die vorgesehenen Schranken, in die angelegten Reservate, denn sie wissen, daß ich eher auf ihre Erkennungsmelodien höre als auf mein Gedächtnis, gefährlich kann ihnen nur meine Selbstisolation werden, die Abkoppelung von ihrem Radiosender, das Ausbrechen aus diesem Klangkreislauf; sie haben Angst, die Verbindung zu mir zu verlieren, Angst, den Zugriff auf mich einzubüßen, sie kriegen die Panik, wenn ich mich zu Hause einschließe, die Antenne aus dem Radio reiße, auf Klingeln an der Tür und Klopfen an der Wand nicht mehr reagiere, meine Musik einschalte und maximal aufdrehe, um alles zu ersticken, was meinen Kopf überfluten will wie Wasser, das über die Ufer tritt. Sie versuchen noch eine Weile, mich zu erreichen, aber vergeblich – meine Dämme aus Lymphe, Speichel und Blut halten stand, meine Musik ist ein innerer Kampf, jeder Song hat so viel gekostet, daß kein Lautsprecher die Vielstimmigkeit übertönen, meine golden collection, meine Phonothek, die Beefsteaks meines Jazz, die Asche meiner Heiligen, meines neil young, meines Teufels überkrächzen kann.
3. Rolling Stones. Sister Morphine.
Ich saß da und hörte meine Platten. Die ganze Zeit ein und dieselben Platten. Ich legte sie Dutzende Male auf, spielte sie so lange, bis das Vinyl ab war, nach einer Weile bekamen sie Sprünge, die Nadel fing an zu hüpfen, aber ich nahm keine Rücksicht – ich hatte nicht vor, die Platten mein ganzes Leben lang zu hören, ich wollte jetzt dieses ständige Geräusch in mir haben, in diesem Sommer und an diesem Ort, an den es mich zufällig verschlagen hatte. Ich war bei einem Kumpel zu Besuch, er hatte mich schon lange eingeladen, komm doch mal vorbei, wir haben hier einen Fluß, da können wir hingehen. Gut, sagte ich, ich komme vorbei. Irgendwann war ich ganz allein, hatte keine Knete mehr und nichts zu tun, da dachte ich – klar, warum eigentlich nicht, vielleicht gibt's dort wirklich einen Fluß. Ich rief den Kumpel an, ich komme, sagte ich, alles klar, antwortete er, komm einfach, wir gehen an den Fluß. Was soll ich denn mitbringen? fragte ich vorsichtshalber – ich hatte keine Knete mehr
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