Anarchy in the UKR
erzählte Jarema weiter, hat selbst ein Programm moderiert, ich habe sie immer gehört, erzählte er, sie haben nur gute Musik gespielt, viel aus den Sechzigern und Siebzigern, rund um die Uhr. Einmal kam Burdon zu ihnen ins Studio. Wie Burdon? ich wollte es nicht glauben. Ja, er wohnt hier um die Ecke, das ist eben Manhattan, erklärte Jarema, alle hocken aufeinander, war eine tolle Livesendung, sie haben einfach die ganze Nacht gesessen und über alles mögliche gequatscht, am meisten hat mich die Geschichte beeindruckt, als Burdon einen Auftritt in einem Gefängnis hatte, in dem nur Schwarze saßen, Burdon ging die Muffe, aber als er anfing zu spielen, war alles okay, sie fanden ihn gut. Burdon sagte, in dem Moment habe er unheimlich viel verstanden. Und jetzt hat der Besitzer des Senders diese Bar aufgemacht und einen Haufen eigene Musik mitgebracht, fremde Musik ist verboten. Und ist Burdon da? fragte ich.
Die Frau hinter der Bar war eine Hexe, das behauptete zumindest Jarema. Sie schenkte uns Bier ein und zeichnete mit dem Schaum Pentagramme obendrauf. Gehen wir, sagte Jarema schließlich, wir gingen durch den Korridor, und dort stand ein riesiger Musikautomat, in dem Hunderte der besten CDs von Manhattan steckten, wir kramten unser gesamtes Kleingeld raus und warfen es ein. Es reichte für 27 Stücke, ein Dollar pro Song, los, sagte ich, drück, was du willst, Jarema wühlte lange, drehte die CDs hin und her, brauchte für jeden Song ewig und sagte dann – zehn sind noch übrig. Jetzt bist du dran.
Was will ich wirklich hören, nicht nur jetzt, nicht nur in dieser Bar mit der Hexe hinter dem Tresen, sondern überhaupt – was will ich hören, was würde ich in den Äther schicken, wenn ich die Gelegenheit hätte? Zehn Tracks, das sind beinahe vierzig Minuten Musik, vierzig Minuten Zeit, in der alles Mögliche mit mir passieren kann, in diesen vierzig Minuten muß der Automat zehn verschiedenen Stimmen, zehn verschiedenen Leben Raum geben, sie mit meiner Stimme, mit meinem Leben verweben. Ich überlegte und drückte die ersten zehn Knöpfe, die mir unter die Finger kamen.
Musik hören wühlt mich immer auf. Wenn ich ein Buch lese, passiert mir das nicht, gefällt mir ein Buch, will ich meistens so schnell wie möglich durchkommen, um herauszufinden, wie es ausgeht. Gefällt es mir nicht, lege ich es wortlos zur Seite, habe aber nach einiger Zeit Gewissensbisse. Mit dem Kino ist es auch einfach, ich warte auf das Ende des Films und zeige mehr oder weniger deutliche Aktivitäten während der Bettszenen, es interessiert mich jedesmal, wie sie es machen, das ist auch schon alles. Mit dem Theater ist es genauso – im Theater fühle ich mich unsicher, ich habe Angst, die Schauspieler könnten jeden Moment ihren Text vergessen und ins Stocken geraten, das macht mich nervös, aber es wühlt mich nicht auf. Außerdem mag ich die Imbißstände im Theater. Anders dagegen bei Musik. Nie mag jemand die Musik, die mir gefällt. Außer mir natürlich. Ich höre sie zu Hause und ohne Zeugen, ich platze vor Gekränktheit und Verzweiflung, wenn jemand kommt und die Musik ausmacht, die ich höre, die ich gut finde, meine Musik, verdammt! Ich hätte auch gern einen eigenen Sender, der würde nur das spielen, was mir gefällt, jedes Jahr würde ich meine potentiellen Hörer bitten, für die Rente des Steuerinspektors zusammenzulegen, ich würde morgens von Viertel zu Viertel, von Tür zu Tür ziehen und sagen, Hallo, ich bin dieser komische Vogel, der für euch die geile Musik macht, Burdon kennt mich persönlich, könnt ihr nicht bißchen was rüberwachsen lassen? Jeder von ihnen hätte das persönliche Recht, mich zum … na ja, zu schicken, jeder hätte einen wunderbaren Anlaß, von diesem Recht Gebrauch zu machen.
2. Neil Young. Rockin' In The Free World.
Freedom! Neil Young sitzt mit seinen speckigen Zotteln und in extra abgewetzten Jeans auf dem Stuhl und hält seine Gitarre in der Hand. Der Fotograf hatte ihn von hinten aufgenommen, so daß von irgendwo her im Saal die Fotolampe blendete und fast nichts zu sehen war, aber dennoch der Eindruck entstand, als sei Publikum im Saal, als wäre alles live. Wir stehen auf dem Dach eines fünfstöckigen Hauses, mitten in Manhattan, es ist zwei Uhr nachts. Unten die Straßen sind voller Taxis, hin und wieder gehen Polizisten und Schwule vorbei. Ich glaube, sie grüßen sich sogar. Frühjahr '96, wir rasten aus, als wir da oben in der dunklen Ozeanluft über dem Abgrund
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