Anarchy in the UKR
die Karte, sie war mit roten und schwarzen senkrechten Linien bedeckt – das war meiner Meinung nach wenn nicht die Denikin-Front, dann die polnische Front, auf jeden Fall erkannte ich an diesen sparsamen Umrissen, daß es der Künstler für wichtig erachtet hatte, den im Saal anwesenden Abgeordneten der örtlichen Räte das Territorium zu zeigen, das mich umgab, wie hätte es anders sein sollen – alles mußte miteinander verbunden und innerlich stimmig sein, und da die Deputierten mit Iljitsch und dem Bernhardiner hier hingen, mußten sie irgendeinen direkten Bezug zu mir, zu meiner Republik und zu meinem privaten Sozialismus haben. Ich habe mir das Bild gern angeschaut, mir gefielen die Deputierten der örtlichen Räte, sie waren tatkräftig und erregt, man konnte erkennen, daß Iljitsch sie ziemlich irritiert hatte, als er auf die Karte zeigte, äußerlich sah das so aus: die Deputierten der örtlichen Räte hatten zuerst keine Ahnung von der Existenz der Denikin-Front oder der polnischen Front, sie waren zu Iljitsch gekommen, um über die sozialen Sicherheiten und die Freude an der kommunistischen Arbeit zu sprechen, aus allen Gouvernements und Kreisen angereist, nahmen sie lärmend im ehemaligen Adelspalast Platz und blickten mißmutig auf den Schlamm und die Scheiße an ihren Schuhen, einer steckte sich eine Papirossa an, ein anderer hustete nervös, alle warteten auf Iljitsch; da geht die Tür auf, und Iljitsch kommt herein mit dem großen schwarzen Bernhardiner an der Kette, er macht ihn am Stuhlbein fest und betritt die Bühne, also, sagt er, Genossen Deputierte, das Thema unseres heutigen Treffens lautet »Die Zerschlagung der Denikin-Front«. Was für eine Front? raunen die Deputierten, so eine Front gibt es doch gar nicht, sprechen wir lieber über die sozialen Sicherheiten. Soziale Sicherheiten? fragt Iljitsch belustigt zurück, und das hier, was ist das eurer Meinung nach – Schwachsinn? Energisch entrollt er vor ihren Augen die Karte mit den roten und schwarzen Vertikalen. Der Bernhardiner fängt laut an zu bellen. Ein erstauntes Raunen geht durch die Reihen der Deputierten, oh, sagen sie, wirklich, die Denikin-Front, wie konnten wir so danebenhauen, und das vor Lenin? Soviel zum Thema Sicherheiten.
Ende der Achtziger fingen die Leute an, ihre Zigaretten am Lenin-Bild auszudrücken.
Ich bin etwa zehn Jahre nicht mehr auf dem Bahnhof gewesen. Er hat sich verändert – Kioske und ein Computerspielklub sind entstanden, der Friseur ist verschwunden, alles ist verfallen und versandet; im vergangenen Jahr entschloß ich mich doch, vorbeizuschauen. Ich stieg in die erste Etage hinauf. Das Bild war natürlich nicht mehr da, wahrscheinlich hat man es verbrannt. Oder jemand hat es für seine Privatsammlung gekauft und 100000 US-Dollar dafür hingeblättert. An der Wand waren noch die Umrisse zu erkennen – seit der Zeit war nicht renoviert worden. Wortlos verzieh ich meiner Vergangenheit einen weiteren Verrat und ging zum Ausgang. Plötzlich blieb ich stehen, etwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Zwischen dem ersten und zweiten Stock stand etwas verdammt Bekanntes. Das kann nicht wahr sein, dachte ich und ging nachschauen. Es war das Bild. Umgedreht, verdeckte es vollständig das Fenster, weshalb die Treppe im Dämmerlicht lag. Aber durch die langen Risse an mehreren Stellen fiel Licht, das die Abbildung in kleine Einzelteile zerlegte. An einer aufgeschlitzten Stelle wies Iljitsch mit seiner Hand die Richtung. Ich trat näher und schaute hindurch – Hochsommer, Sonnenstaub, die weite und unruhige Welt, die die Freude an der kommunistischen Arbeit immer noch nicht begriffen hat.
Am Vergnügungspark gefiel mir, daß er sein eigenes Leben lebte. Und wenig auf die Marotten und Konvulsionen der Zeit hinter dem grünen Zaun gab, der den Park von der Erwachsenenwelt trennte. Mir gefiel das ständige Kommen und Gehen im Park, die allgemeine Stimmung – heiter und gelöst, eine solche Stimmung herrscht wahrscheinlich im Fegefeuer, wenn es zu spät ist, sich zu ändern, und man nur noch das Urteil der Geschworenen abwarten kann, auf schweren Holzschaukeln hin und her schwingend. Im Park arbeitete ein Bekannter meiner Eltern, ein Mensch mit einem weiten Herzen, er war ständig betrunken und schaute den Kindern melancholisch bei ihren Fahrten zu, er verkaufte die Karten, schaltete die Karussells ein, gab die Schaukeln frei, und wenn alles am Laufen war, schloß er sich mit dem Hausmeister in einer kleinen Bude
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