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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Unterschied zu Gordejew, den das Bewusstsein seiner Minderwertigkeit gallig machte, kompensierte Nadenka ihren Mangel durch ein fröhliches, geselliges Wesen. Sie studierte am pädagogischen Institut, liebte Kinder abgöttisch, wollte Grundschullehrerin werden und hatte schreckliche Angst, dass die Kinder über sie lachen würden.
    Die Eroberung erfolgte stürmisch und auf ganzer Linie, und bereits nach zwei Monaten hatte Gordejew eine Ehefrau, mit der er sich zusammenraufen konnte, eine Ingenieurin zur Schwiegermutter und einen Arzt als Schwiegervater. Doch dann geriet das vorgezeichnete Schema ins Wanken.
    Eines schönen Morgens, rund ein halbes Jahr nach der Hochzeit, bemerkte Nadenka, als sie ihren Rock anzog, dass sie zwischen die Stelle, wo sich theoretisch ihre Taille befand, und den Gürtel bequem ihre mollige Hand stecken konnte. Nadenka, ganz in Anspruch genommen von dem Gedanken an eine mögliche Schwangerschaft, maß der Absonderlichkeit ihrer Kleidung keine weitere Bedeutung bei. Aber zwei Wochen später kam die Wahrheit dennoch ans Licht und verblüffte Gordejew: Seine Frau war schwanger und nahm deshalb ab. Sein Schwiegervater lachte, meinte aber, das sei durchaus möglich, wenngleich sehr selten. Offenbar, erklärte er, hätten die durch die Schwangerschaft bedingten Veränderungen im Körper zur Normalisierung des Stoffwechsels geführt.
    Nachdem Nadenka einen Sohn geboren und ein Dutzend Kilo abgenommen hatte, erklärte sie Gordejew entschieden, sie werde so lange Kinder kriegen, bis sie die Figur eines Filmstars habe. Gordejew willigte belustigt ein, war aber dennoch bass erstaunt, als auch die zweite Schwangerschaft seiner Frau gut bekam. Ihr Gesicht war nicht mehr aufgedunsen, und plötzlich stellte sich heraus, dass Nadenka eine hübsche Nase und wunderschöne Augen hatte. Kurzum, Gordejew, der ein hässliches Dickerchen geheiratet hatte und sich sicher gewesen war, sie und ihre Eltern würden ihm bis an ihr Lebensende dafür dankbar sein, war mit einem Schlag der Mann einer richtigen Schönheit. Aber damit war das Maß seines Unglücks noch nicht voll!
    Einige Zeit später versetzte der unscheinbare Schwiegervater Gordejew einen empfindlichen Schlag, indem er eine neue, äußerst effektive Methode für chirurgische Eingriffe am Herzen ersann, woraufhin er rasch Karriere machte. Kaum hatte Gordejew sich versehen, war sein Schwiegervater Professor und bald schon Direktor des Instituts für Kardiologie. Das konnte der stolze Gordejew nicht ertragen. Bei seiner Heirat hatte er gehofft, die Familie würde ihn auf Händen tragen, weil er Kriminalist war. Das hatte nicht geklappt, also musste er einen Weg finden, um sozusagen adäquat zu sein. Diesen Weg fand Viktor Alexejewitsch, inzwischen bereits Major, in amerikanischen Büchern über Führungstheorie und -psychologie.
    Schließlich ging die Rechnung auf. Nadenka war nun die geachtete Nadeshda Andrejewna, Direktorin eines renommierten Moskauer Lyzeums. Der Schwiegervater, ein weltberühmter Kardiologe und Professor, war Abgeordneter des russischen Parlaments. Und Viktor Alexejewitsch Gordejew hatte gewissenhaft alle Beförderungsstufen durchlaufen und war auf dem Posten eines Abteilungsleiters der Obersten Kriminalbehörde in Moskau angekommen, wo er alle interessanten Erkenntnisse anwandte, die er in den schlauen Büchern gefunden hatte. Er hatte vor niemandem Angst, denn niemand mochte sich mit ihm anlegen. Schließlich hatte jeder Kinder, die er gern im Lyzeum unterbringen wollte, und an Herz-Kreislauf-Erkrankungen litt jeder Dritte.
    Nadeshda Andrejewna reichte ihrem Mann das Frühstück und sagte:
    »Wir haben Karten für die Premiere im ›Sowremennik‹. Gehen wir hin oder geben wir sie den Kindern?«
    »Wer hat sie gebracht?«, erkundigte sich Gordejew.
    »Grashewitsch. Er spielt die Hauptrolle.«
    »Schon wieder Grashewitsch«, knurrte Gordejew missmutig. »Wenn ich nicht irre, schon zum vierten Mal. Ist sein Sohn ein Sitzenbleiber, oder was?«
    »Nicht doch.« Seine Frau zuckte die Achseln. »Der Junge zeigt ganz normale Leistungen. Warum sollte er ein Sitzenbleiber sein?«
    »Weil es dann einen Sinn hat, sich bei der Direktorin einzuschmeicheln. Aber wenn der Junge gut in der Schule ist, wozu dann die Mühe?«, erklärte Gordejew und kaute einen Käsetoast.
    »Viktor, ich hab es dir schon hundertmal gesagt, aber ich sage es dir auch noch zum hundertundersten Mal«, sagte Nadeshda zärtlich, wobei sie ihren Mann umarmte und ihn auf die

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