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Anastasija 06 - Widrige Umstände

Anastasija 06 - Widrige Umstände

Titel: Anastasija 06 - Widrige Umstände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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bringen. Nastja ging in die Küche, um Kaffee zu mahlen. Sie setzte Wasser auf und nahm eine Tüte Orangensaft und Eis aus dem Kühlschrank. Ein ziemlich teures Vergnügen, sagte sie sich zum wiederholten Male, eine Tüte reicht für vier Tage, wenn ich nur morgens Saft trinke; das macht fast zweitausend Rubel im Monat. In ihrem Urlaub im Mai war sie nicht verreist, Stattdessen hatte sie eine Gelegenheitsarbeit angenommen, die Übersetzung eines französischen Krimis von Charles Exbrayat, und das gesamte Honorar umgehend für derartige teure Vergnügungen ausgegeben: dreißig Tüten Saft, ein paar Büchsen Kaffee, drei Stangen gute Zigaretten. Und für ihren geliebten Martini, das einzige alkoholische Getränk, das sie genoss.
    Ihr Körper reagierte zögernd, gleichsam widerwillig, auf jeden Schluck des eiskalten Safts. Der heiße Kaffee tat ein Übriges, und nach der ersten Zigarette fühlte Nastja sich richtig gut.
    Als sie gefrühstückt hatte, warf sie den Bademantel ab und trat erneut vor den Spiegel. Die Schwellung im Gesicht war zurückgegangen, nun konnte sie sich ohne Abscheu ansehen. Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild. Nichts zu machen, mit Schönheit hatte Gott sie nicht gesegnet. Aber sie war auch nicht ausgesprochen hässlich. Ein regelmäßiges Gesicht, eine gut proportionierte Figur, lange Beine, schlanke Taille. Einzeln war alles in Ordnung, aber alles zusammen ergab etwas Unauffälliges, Durchschnittliches, Glattes – nichts, woran der Blick lange haften blieb. Ein deutlicher Schönheitsfehler waren nur die hellen Augenbrauen und die weißblonden Wimpern, aber selbst wenn Nastja sie tuschte, empfand sie sich als graue Maus. Nach so einer Frau drehten sich die Männer nicht um.
    Nastja Kamenskaja zog Jeans und ein T-Shirt an, legte ein leichtes Make-up auf und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
    Für den Weg zur Arbeit rüstete sich auch Viktor Alexejewitsch Gordejew, Abteilungsleiter bei der Obersten Kriminalbehörde in Moskau – ein untersetzter Mann mit rundem, fast völlig kahlem Kopf und solidem Bauch, von seinen Untergebenen Knüppelchen genannt.
    Gordejew war ein anschaulicher Beleg, sozusagen die lebendige Verkörperung der Binsenweisheit vom Schein, der häufig trügt. Zweiunddreißig seiner dreiundfünfzig Lebensjahre hatte er bei der Miliz gearbeitet, sechsundzwanzig davon bei der Abteilung zur Bekämpfung schwerer Gewaltverbrechen. In diesen sechsundzwanzig Jahren hatte er gelernt, wie man Verbrechen aufklärte, darum lief die Arbeit in der Abteilung, deren Leitung er übernommen hatte, besser als vor seiner Zeit. Der sanfte, gleich bleibend freundliche Gordejew war unglaublich nachtragend und misstrauisch. Außerdem hatte er niemals und vor nichts Angst, denn er war sehr glücklich verheiratet.
    Die Geschichte seiner Heirat bestätigte die alte Wahrheit, die besagt, eine Ehe aus Berechnung könne durchaus glücklich werden, wenn die Berechnung stimmt. Gordejew war nämlich nicht erst zum Dickerchen geworden. Er war so geboren und bis zum Schulabschluss ständig dem Spott und den Hänseleien seiner Klassenkameraden ausgesetzt gewesen. Nach dem Armeedienst ging Viktor Gordejew, voller Komplexe, nachtragend, wütend auf die ganze Welt, dick, aber trotzdem stark und gewandt, zur Polizei, und zwar nur deshalb, weil das damals Ehre und Ansehen versprach und sein Minderwertigkeitsgefühl irgendwie kompensieren sollte.
    Die Arbeit bei der Miliz und das Abendstudium an der juristischen Fakultät beendeten zwar die Spötteleien, nicht aber Viktors Leiden. Klein und dick, wie er war, hatte er einen leidenschaftlichen Hang zu großen, dürren Brünetten. Besonders lange quälte ihn die unerwiderte Liebe zu seiner Kommilitonin Ljussja Chishnjak, an der alles reichlich bemessen war: ihr Wuchs, ihre hohen Absätze, ihre Magerkeit, ihre Zartheit und ihr Charme. Diese ganze Pracht maß ein Meter dreiundachtzig und erschien Gordejew als unerreichbares Ideal.
    Nachdem er etwa bis zum vierten Studienjahr gelitten hatte, kam er zu dem wenig tröstlichen Schluss, dass Liebe und Ehe wenig miteinander zu tun hätten, und deshalb müsse man seine künftige Frau nicht unter denen auswählen, in die man sich verliebte, sondern unter denen, mit denen man sich zusammenraufen könne. Bei einer Studentenparty lernte er Nadenka Woronzowa kennen, die ihm, was Gewicht und Komplexe anging, in nichts nachstand. Sie litt seit ihrer Kindheit an einer Stoffwechselstörung und war mit zwanzig plump und massig. Aber im

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