Nachtkalt: Psychothriller (German Edition)
1
Es war kein wirkliches Erwachen, mehr der Wechsel von einem dämmrigen Bewusstseinszustand zurück in die Abgründe der Realität. Dieses Mal hatte kein Geräusch diesen Wechsel ausgelöst, sondern ein Schweißtropfen, der sich in Anjas Auge verirrt hatte. Ohne es bewusst zu tun, verkrallten sich ihre eiskalten Hände in der Zudecke, ihr Atem wurde so flach wie möglich, um keinen Laut zu verursachen, und ihre geröteten Augen starrten auf die Zimmerdecke.
Wie so oft in den letzten Tagen und Nächten suchten ihre Gedanken einen Grund, oder wenigstens einen Auslöser für ihre Situation, doch da war nichts. Alles, was sie noch wusste, war, dass sie in ihrem eigenen Bett lag, welches in ihrer eigenen kleinen Wohnung stand. Ihr Zuhause war noch immer liebevoll und gemütlich eingerichtet, aber sie konnte diesen Wänden nicht mehr vertrauen. Alles, selbst die kleinsten Gegenstände waren zu einer Unsicherheit geworden. Hinter jedem Ding konnte etwas stecken, was ihr zum Verhängnis werden konnte.
Nichts hatte ihr geholfen. Er war übermächtig und sie war sich sicher, er würde wiederkommen ... ES GAB KEINEN AUSWEG!
Ihre Hand wollte den Schweißtropfen aus ihrem Auge wischen, ließ sich aber kaum bewegen. Irgendwann lösten sich die verkrampften Finger von der Zudecke und sie musste all ihren Willen aufbringen, um die Hand an den Kopf zu führen.
Als dies geschafft war und das Brennen in ihren Augen etwas nachgelassen hatte, schloss sie diese für einige Sekunden. Erst war das Bild zu undeutlich, dann wurde es schärfer und ihr Geist zeigte ihr den einzig möglichen Ausweg. Sie brauchte einige Sekunden, um diesen Gedanken, diesen Weg, zuzulassen, doch als dies geschehen war, schien alle Last von ihr abzufallen. Die bleierne Schwere der letzten Tage, all die Angst und Verzweiflung hatten nun keinen Angriffspunkt mehr.
Anja erhob sich wie in Trance, ließ im Vorbeigehen ihre Hände über die Blätter der kleinen Zimmerpalme streifen und bildete sich ein, dass diese ihr Mut zusprachen. Mit gesenktem Blick setzte sie einen Fuß vor den anderen, ohne dabei wie sonst das Gefühl des hochflorigen Teppichs unter ihrer Haut zu genießen.
Die Stadt hinter dem großen Wohnzimmerfenster war so still, wie sie es nachts um 4 Uhr immer war. Der kalte Herbstregen peitschte gegen das Glas, wobei die einzelnen Tropfen immer neue Spuren zeichneten und einen milchigen Schleier über die Stadt legten. Anja drehte sich noch einmal um ihre eigene Achse und als wäre es abgesprochen, begannen die Lämpchen des auf stumm geschalteten Telefons zu blinken, doch es hatte seine erschreckende Wirkung verloren. Ganz im Gegenteil, jetzt gab es ihr nur noch mehr Mut.
Ein hämisch-irres Grinsen legte sich über ihr Gesicht, dann blickte sie noch ein letztes Mal auf das Bild ihrer Mutter, wandte sich anschließend wieder dem Fenster zu und öffnete es.
Eine kalte Windböe, vermischt mit eisigen Regentropfen, umhüllte sie für einen kurzen Augenblick, doch die Kraft, welche ihr die Kälte abzog, gab ihr der deutlich hörbare Signalton des Anrufbeantworters wieder zurück. Ihr Blick fokussierte einen weit entfernten Punkt am Horizont, der sie zu locken schien, dann trat sie bis an das kalte Außengitter des bis zum Boden reichenden Fensters, beugte den Oberkörper darüber und gab sich erleichtert der Schwerkraft hin.
2
Einige Tage zuvor ...
Es waren diese ironischen Momente des Alltags, die Menzel den Tag versüßten. Er wusste vom ersten Tag an, dass Aufseher Schröder hinter seine Fassade blicken konnte und ihn besser als alle anderen kannte. Am Anfang hatte sich Menzel noch ausgemalt, wie er den Mann und seine Familie nach der Haftentlassung in eine neue Dimension ihres langweiligen Lebens überführen würde, doch inzwischen sah er davon ab. Aufseher Schröder kannte seinen Platz im Universum und hatte, soweit Menzel wusste, noch nie versucht, seine Entlassung zu verhindern.
Jetzt ging ausgerechnet Schröder zwei Schritte hinter ihm und brachte ihn zu dem Abschlussgespräch, das seine vorzeitige Entlassung besiegeln sollte. Nach scheinbar endlos langen Korridoren und zahlreichen Gittertüren erreichten sie die medizinisch-psychologische Abteilung der Haftanstalt und Schröder wies ihn an, auf einem der drei an der Wand montierten Stühle Platz zu nehmen. Menzel setzte sich.
Die vergitterte Wanduhr zeigte zwei Minuten vor 9 Uhr, doch er wusste, dass Frau Dr. Tamara Bernau ein Kontrollfreak war. Mit den Augen dem Sekundenzeiger
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