Anatomie Einer Nacht
hinzu, zuckt dann mit den Schultern, es sei aber nicht viel, eigentlich lohne es sich kaum.
Ist alles Dreck.
Sie rauchen schweigend in der Dunkelheit, einträchtig, als einer der Hunde aus dem Sommerquartier beim Fluss zu heulen beginnt und die anderen ansteckt. Ihr Singen entleert die Nacht, löst die Schwärze auf, verdünnt sie –
als hätten Laute ihre eigene Farbe und wären heller als Finsternis, leichter als Luft.
Mit verschränkten Armen, den Rücken der Tür zugewandt, sitzt Jens auf der Bettkante und ignoriert Sivkes Fragen, die mit der Zeit dünner, durchsichtiger werden und langsam verpuffen.
Endlich umfasst er ihren Arm, als hielte er ihr den Mund zu, und sagt: Du gehst besser.
Sie zögert kurz, dann nickt sie, steht auf, knöpft sich das Kleid zu, schlüpft in die Jacke und will nach ihrer Tasche greifen, als Jens sie am Ellbogen festhält.
Sie hat mich belogen.
Wer?
Sie habe ihn getäuscht, von Anfang an, sagt Jens und verschweigt, dass auch er am Zufall beteiligt war, dass er sie auf dem Weg ins Polizeirevier entdeckt und beschlossen hat, sich zu verspäten. Sie gab vor, überrascht zu sein, obwohl sie ihn bereits gesehen, eigentlich nichts anderes getan hatte, als nach ihm Ausschau zu halten, aus diesem Grund war sie bereits zum dritten Mal zum Supermarkt unterwegs und trödelte den Pfad zum Tal der Blumen entlang, jedes Mal in der Hoffnung, er würde hier auftauchen. Als er dann vor ihr stand, fiel ihr nichts Besseres ein, als von den Seelen des Menschen zu berichten. Der menschliche Körper, erklärte sie, und sie sprach atemlos, tauchte mit ihren Händen immer wieder an, als müssten die Worte gestoßen werden, sei eine Art Sammelbecken der Seelen, die wichtigste sei die Seele des Namens, so groß wie eine Schneeflocke, sie sitze tief unten im Hals, neben der Seele des Lebens. Die Seele des Schlafes, so groß wie ein Daumen, stecke in der Leiste. Man komme mit der Seele des Lebens, der Seele des Schlafes und einigen kleineren Seelen in den Gelenken zur Welt. Die Seele des Namens erhalte man sofort nach der Geburt. Kaum sei die Nabelschnur durchtrennt, werde einem der Name eines Toten ins Ohr geflüstert, und die Seele des Namens dringe, sobald sie sich gerufen fühle, durch die Tür der Seelen in den neuen Wirt, wo sie sich zusammenrolle und fortan lebe, und mit ihr werde die Persönlichkeit des Namensgebers, sein Charakter, seine Stärken und Schwächen, seine Vorlieben und Abneigungen, auf das Kind übertragen.
Sie bleibt, solange es ihr dort gefällt. Wird der Mensch verletzt, geschlagen oder anders misshandelt, verlässt sie ihn.
Sie lehnte sich nach vorne, bis er so dicht vor ihr stand, dass sie seinen Atem spürte, die Wärme, die von seinem Körper ausging.
Wenn auch nur eine der Seelen den Menschen verlässt, wird er krank werden und sterben. Man kann ihn retten, indem man die abtrünnige Seele einfängt, sie vorsichtig mit beiden Händen umschließt, wie einen kleinen Vogel.
Ich verstehe kein Wort.
Sivke schüttelt den Kopf, von wem er spreche?
In Amarâq ist der Atem das Prinzip des Lebens. Er nimmt die Form von Brisen, Winden, aber auch Stürmen an, kann als Luft gefühlt werden und als Himmel gesehen. Er gehört nicht einem Individuum, sondern ist Teil einer Kraft, die einer Person geliehen wird, solange sie lebt. So bewegt er sich in einem unendlichen Kreislauf, pflanzt sich von einem Lebewesen zum nächsten fort. Nach dem Tod verlässt er den Menschen, verstreut sich in der Welt. Wörter sind seine Hülle, die Form, die er braucht, um von den Menschen verstanden zu werden, und sie wissen, welcher Macht sie sich täglich ausliefern, denn alles, was man in Amarâq ausspricht, wird Wirklichkeit –
Sivke wiederholt ihre Frage.
Wer hat dich belogen?
Julie Hansen.
Johanna schulterte ihren Rucksack zum zweiten Mal.
Warte.
Sie hielt in der Bewegung inne, das Haar fiel über ihr Auge, einäugig sah sie Jens an.
Ob Sørensen die fehlende Seele gefunden und zurückgebracht habe, fragte dieser. Johanna schüttelte den Kopf, nein, er habe gar nicht erst nach ihr gesucht, Julie sei von selbst aufgewacht, und mit einem Lächeln sagte sie, ihre Tochter werde wohl immer eine Seele zu wenig haben –
vielleicht aber ist sie noch unterwegs, seit mehr als einem Jahrzehnt: eine Seele auf Reisen, eine Wanderseele, die mal in den Körper eines Hundes schlüpft, mal in den eines Raben und in einen Grashalm, jedoch weder die kalte Jahreszeit verträgt noch das ständige Wippen im
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