Anatomie Einer Nacht
Träume: Träume, die vergessen sind, sobald man aufgewacht ist; verschwiegen, verraten selten, was geschehen wird . In den letzten zwanzig Jahren glaubt er herausgefunden zu haben, dass sich ein Traum bloß auf den folgenden Tag bezieht, nicht etwa auf die ganze Woche oder den Monat, und dass seine Ablauffrist zwölf Stunden beträgt. Erfüllt er sich nicht innerhalb dieses Zeitraumes, ist er wertlos oder wurde falsch verstanden. Nicht alle Träume, so sieht es Niels, sind leicht zu entschlüsseln, bei manchen sind mehrere Anläufe nötig, bis er sie begreift. Normalerweise enthalten sie Warnungen, Hinweise auf etwas, das in der Zukunft liegt: Sie sind Weichen, die man stellen kann, um die Zukunft zu manipulieren, sein Schicksal zu ändern, jedoch nur, wenn man sie zu deuten weiß. Aus diesem Grund führt Niels das schwarze Notizheft, hat es immer bei sich, stets griffbereit. Anfangs verstand er seine Träume nicht, später aber fiel es ihm leichter, ihren Nutzen für sein Leben zu begreifen. Spielen Kinder Fußball in seinen Träumen, bedeutet es, dass etwas Unangenehmes passieren wird; wird er in seinem Traum von einer Frau geküsst, weiß er, dass er unerwartet Geld bekommen wird. Träumt er von einem Feuerwerk, wird etwas Lustiges geschehen, träumt er hingegen vom Fliegen, droht Gefahr. Solchen nächtlichen Hinweisen hat er sein Leben untergeordnet, verkriecht sich, sobald ein Ball in seinen Träumen gekickt wird oder seine Füße vom Boden abheben, kauft im Internet ein, sobald sich die Lippen einer Frau seinen nähern.
Im Grunde war Niels’ Fixierung auf die Traumdeutung eine Art Sehhilfe, Sichtprothese: das dritte Auge. Als Kind litt er unter einer Augenkrankheit, die in Ostgrönland in dieser Form noch nie aufgetreten war. Seine Augen waren blutunterlaufen, und sowohl Eiter als auch grünlich-gelblicher Schleim tropften aus den Augenwinkeln, liefen als dünnes Rinnsal über die Wangen, und mit der Zeit schwollen die Lider an, wanden sich wurstförmig um die Augäpfel. Diese Deformation schränkte Niels’ Möglichkeiten zu sehen ein, andererseits konnte er nicht anders, als seine Augen offen zu halten, denn wann immer er sie schloss, stach es umso stärker in ihnen. Die heimliche Schamanin, die lediglich für den Pastor Jägersfrau spielte, wurde geholt, doch schon nach einem kurzen Blick auf den Patienten weigerte sie sich, ihn zu behandeln, die Krankheit sei die Quelle für eine große prophetische Begabung, sagte sie, murmelte ein paar magische Worte und schlüpfte in ihre Alltagsrolle zurück. Bald munkelte man in Ittuk und auch in Amarâq, dass das Kind Niels in Wahrheit ein mächtiger Schamane sei und mit offenen Augen schlafe. Das war so nicht ganz richtig: Er hatte sie beim Schlafen geschlossen, doch der Schmerz weckte ihn alle paar Stunden auf –
bis er endlich selbst den Grund für sein Leiden identifizierte und sich einen ganzen Tag lang, er musste immer wieder innehalten, weil es ihn vor Schmerzen schüttelte, jede einzelne Wimper ausriss. Währenddessen und sofort danach bluteten die Lider, schwollen noch stärker an und entzündeten sich, und als sie endlich, nach Wochen, verheilt waren, blieben Narben und Wulste zurück, die die Augäpfel nach außen drückten, so dass es aussah, als wollten sie aus dem Schädel springen. Seine Sehkraft aber hatte sich verbessert, und er sah von diesem Tag an weiter und schärfer als alle anderen, auch wenn das Bild immer ein wenig zerkratzt war. Um nicht angestarrt und verspottet zu werden, setzte er eine Brille mit dickem Rahmen auf, die ein Tourist zurückgelassen hatte. Er stolperte, wenn er sie trug, aber sie verkleinerte seine Augen, und er gewöhnte sich daran, die Brille abzunehmen, wenn er scharf sehen wollte.
Manche Träume belügen dich, sagt er, aber jene, die frühmorgens auftauchen, helfen dir, ihnen kannst du vertrauen. Bis heute haben mich meine Träume nicht ein Mal betrogen.
Lars greift nach der letzten Dose Bier, und was ist, fragt er, wenn man den gleichen Traum immer wieder hat? Das ist kein guter Traum, sagt Niels, zündet sich eine Zigarette an und wiederholt: Das ist kein guter Traum, den musst du loswerden, so schnell wie möglich.
Lars weicht Niels’ forschendem Blick aus, steht vom Sofa auf, einer Konstruktion aus zwei Matratzen, und schiebt den langen braunen Mantel, der zum Verdunkeln vor das kleine quadratische Fenster gehängt wurde, beiseite. Jede Nacht, sagt er, träume er davon, wie eine Gruppe von Menschen in einen
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