Anatomie Einer Nacht
sagte Johanna, von der Alten am See.
Der erste Stein traf Laerke an der Schulter, hielt sie aber nicht davon ab, nach Jesper Sørensens Rucksack zu greifen und zu versuchen, ihn festzuhalten, der zweite traf sie an der Brust, sie schrie auf, blieb etwas zurück, holte dennoch gleich wieder auf, als er stolperte. Sie schnappte nach seinem Arm, bekam ihn am Ellbogen zu fassen, sie rangen kurz, er stieß sie von sich und schlug ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht, Laerke wimmerte, rutschte auf dem Geröll aus und fiel zu Boden. Sørensen horchte. Es war kein Laut zu hören. Er näherte sich ihr vorsichtig, sie war ein Schatten auf der Erde, nichts weiter als ein Fleck. Er kniete nieder, tastete nach dem Handgelenk, nach ihrem Puls. Schwach. Er fasste sie an den Schultern und rollte sie hinter einen Fels, vergewisserte sich, dass man sie nicht sofort finden würde. Wickelte den Säugling enger in den Pullover, drückte ihn an sich und lief in der Dunkelheit davon. Kletterte das Geröllfeld hinab, durchquerte den von hohen Steinen durchsetzten Abhang, bis er die stillgelegte Fischfabrik und das verlassene Pförtnerhaus erreichte, stolperte die letzten Meter zum hellerleuchteten Haus. Er holte tief Luft, wischte sich das Blut von der rechten Hand und klopfte. Johanna öffnete, überglücklich, Age umarmte ihn, bloß Kirsten, Johannas Nichte, versteckte sich hinter der Tür; sie wich Sørensen aus, der sich trotz Julies Gebrüll und Laerkes Rufen nicht hatte stören lassen –
Sie saßen bei Kaffee und Keksen, Mutter, Kind und Mieter, die Persipanplätzchen waren abgelaufen, Jens hatte das Haltbarkeitsdatum auf der Rückseite der Packung übersehen, am nächsten Tag sollte er entdecken, dass die meisten abgepackten Lebensmittel im Geschäft abgelaufen waren, dass abgelaufene Waren eine Spezialität Amarâqs sind, da Nahrung hier keiner Frist unterworfen ist, und Johanna meinte, Julie sei nicht aufgewacht, sosehr sie es auch versucht hatten, selbst der Arzt, Dr. Sørensen, habe ihnen nicht helfen können, so hätten sie schließlich Katrine geholt, ihre Mutter.
Die Großmutter hatte einen Blick auf den Säugling geworfen und gesagt: Ihre Seelen sind nicht vollzählig.
Im Grunde erstreckt sich Amarâq über zwei Berghänge, eine einzelne Straße verbindet ihre Enden, windet sich durch das Gebirge, ein asphaltierter Fluss, und mündet im Nirgendwo. Von ihr und ihren vier Nebenarmen abgesehen, deren Verlauf und Ende schon an der Abzweigung erkennbar sind, den bunten Blockhütten, die einem Bilderbuch entsprungen scheinen und manierlich die Landschaft bewohnen, als seien sie breite Bäume, und den Eisbergen, die im Fjord schaukeln oder an Land dösen, selbstvergessen, einfältig, als seien sie Amphibien, sind alle Flächen zwischen den Häusern Gehsteige: Ungebeten in privaten Gärten zu wandeln kann nicht passieren, denn es gibt keine Gärten, nur gezähmte Wildnis zwischen den Häusern und ungezähmte außerhalb, an den Grenzen der Stadt. Die Zellophanverpackung der Instant-Nudelsuppen flattert zwischen den Steinen und Gräsern und hat sich in ewiges Laub verwandelt, Herbstlaub.
Ein Stadtzentrum gibt es nicht, aber auf dem Platz vor dem Rathaus versammeln sich um die Mittagszeit Kindergartenkinder und junge Mütter mit ihren Kinderwagen vor einem runden Podium, von dem das Denkmal entflohen ist. Inzwischen studieren Väter die Anschlagtafel gegenüber, notieren sich Telefonnummern für Bootsteile, gebrauchte Kühlschränke oder Fahrräder, wenn sie es sich nicht auf dem kleinen Hang gegenüber dem Amtshaus gemütlich machen, picknicken, rauchen und vorüberschlendernde Bekannte, Verwandte oder Freunde begrüßen. Der kleine Teil der Bevölkerung, der Arbeit hat, huscht geschäftig vorbei.
Allerdings ist Amarâq nicht so übersichtlich, wie es den Anschein hat. In seinen Winkeln, Falten, verbirgt es geheime Welten, die man lediglich durch Zufall entdeckt, wie den alten Friedhof zwischen dem Polizeirevier und Emilias Buchgeschäft, der bloß an zwei Kreuzen als solcher zu erkennen ist und sich immer wieder aus dem Blickfeld zu ducken scheint, so dass man sich fragt, ob es ihn jemals gegeben hat, oder das Sommerquartier der Schlittenhunde, das aus unterirdischen Höhlen besteht, die sich am Ufer des Flusses entlangschlängeln.
Zwischen dem Armenviertel beim Heliport und dem modernen Viertel liegen die Administration mit dem weißgestrichenen, würfeligen Verwaltungsgebäude, die Polizei im gelben Hochblockhaus, die Post
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