Die Heilerin
Kapitel 1
Margaretha war gerade fünfzehn, als ihre Mutter sie das erste Mal zu einer Geburt mitnahm. Es war eine stürmische Oktobernacht im Jahr 1677. Der Wind heulte durch die Gassen in Krefeld, das Laub der Bäume wurde, Vogelschwärmen gleich, zwischen den Häusern hindurchgejagt. Immer wieder verdunkelten dichte, tiefhängende Wolken den vollen Mond, der knapp über der Stadtmauer zu hängen schien.
»Wach auf, Margret.« Die Mutter schüttelte sanft Margarethas Schulter. »Mevrouw van Holten liegt in den Wehen.«
»Mutter?« Margaretha rieb sich verwirrt über die Augen.
»Schhh.« Ihre Mutter hielt die Kerze hoch, schützte die flackernde Flamme mit der Hand vor dem Windzug, der durch die Ritzen des Fensters drang. »Wecke deine Geschwister nicht. Ziehe dich an und komm.« Bisher hatte Margaretha ihre Mutter zwar bei Wochenbett- oder Krankenbesuchen begleitet, aber noch nie durfte sie einer Geburt beiwohnen. Sie sprang aus dem Bett, griff nach ihren Kleidern und schlüpfte hinein. Es war empfindlich kalt geworden, und nur mit Mühe gelang es ihr, die Haken und Ösen der klammen Kleidung zu schließen.
»Nimm die dicken Socken«, sagte ihre Mutter leise, aber eindringlich. »Es wird schneien.« Sie hatte die Wollsocken schon aus dem Kasten genommen und hielt sie dem Mädchen hin.
»Schneien? Es ist erst Ende Oktober, Moedertje.« Margaretha warf einen zweifelnden Blick aus dem Fenster. Die dichten Wolken drohten allenfalls mit Regen, dachte sie.
»Es liegt Schnee in der Luft«, wisperte die Mutter. Kritisch besah sie sich ihre Tochter, dann nickte sie. »Die Haube noch. Mein Korb steht unten, wir müssen uns sputen.«
Margaretha schlang den Zopf zu einem losen Knoten im Nacken, sie hatte keine Zeit, die Haare ordentlich hochzustecken, zog die Haube über und verknotete das Band unter dem Kinn. Mevrouw van Holten war eine geborene Scheuten, dachte Margaretha, erst letztes Jahr hatte sie geheiratet, und nun erwartete sie ihr erstes Kind.
»Warum müssen wir uns beeilen?« Auch wenn Margaretha noch bei keiner Geburt dabei war, wusste sie doch viele Dinge, die damit zu tun hatten. Von früh an hatte die Mutter ihre einzige Tochter mitgenommen, hatte mit ihr den Kräutergarten gepflegt und war mit ihr durch die Rheinauen gegangen, immer auf der Suche nach Kräutern und Heilpflanzen. Gewissenhaft hatte die Mutter der Tochter den Nutzen und Schaden von Pflanzen, Kräutern, Aufgüssen und Extrakten erklärt. Margaretha wusste, dass die erste Geburt sich oft lange hinziehen konnte.
»Es wird Schwierigkeiten geben«, sagte Gretje op den Graeff, stemmte sich gegen die Haustür, die nach außen öffnete, und zog ihre Tochter mit sich, als sie endlich gegen den Wind ankam. Mevrouw op den Graeff, eine der Hebammen und Heilfrauen der Stadt Krefeld, trug in der einen Hand das Windlicht, in das sie die Kerze gesteckt hatte, in der anderen den großen Korb mit ihren Kräutern und Hilfsmitteln. Margaretha folgte ihr, die Tür glitt ihr aus der Hand und fiel krachend ins Schloss. »Verdomme!«, murmelte sie.
»Nicht fluchen!«, ermahnte die Mutter sie. »Hoffentlich hast du den Vater nicht geweckt.« Nur einen kurzen Blick warf Gretje über ihre Schulter, dann eilte sie weiter.
Margaretha sog die Luft tief ein, ihre Mutter hatte recht, es roch nach Schnee, kalt und ein wenig wie das Eisen, wenn der Hufschmied es zischend aus dem Wasser zog. Die Luft war auch deutlich kühler geworden, und vom Boden her zoges klamm nach oben, trotz der dicken Strümpfe. Sie liefen vom Obertor, wo das Haus der Familie stand, über die Hauptstraße Richtung Schwanenmarkt, passierten den Platz mit dem Brunnen und bogen am Viehmarkt rechts ein in die Burgstraße. Am Viehmarkt roch es nach Dung und Schweinen, das Geschnatter der Gänse und Hühner, die noch am Mittag dort angeboten worden waren, schien noch immer in der Luft zu liegen. In der kleinen Gasse warf sich ihnen der Wind entgegen, als wollte er sie mit aller Macht davon abhalten, ihr Ziel zu erreichen. Hier knirschte der Matsch schon unter den Stiefeln der beiden Frauen. Der Boden fror.
»Godallemachtig«, murmelte Gretje op den Graeff und hielt kurz inne. Der Wind heulte um die Häuserecken, fing sich in den Toreinfahrten, hallte dort. Doch dann wurde Margaretha klar, dass es nicht der Wind war, der dort heulte, sondern eine Frau. Sie wimmerte, steigerte das Wimmern, bis es in einem gellenden Schrei endete, begann wieder zu wimmern.
Die Mutter sah sich kurz zu ihrer Tochter um,
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