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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Jeeps, Panzer und Tanker, die auf ihnen bis vor wenigen Wochen gerollt waren, nun aber nur noch von einem gelben SCHOOL BUS befahren wurden, der morgens und nachmittags vierzehn Kinder durch die Stadt kutschierte. Dann verbarg sich Anders auf dem Spielplatz zwischen der Bowlinghalle und der gelben Militärbaracke, die der Direktor , so wurde er von allen im Ort genannt, ein stämmiger Mechaniker mit eckigem Gang und einem auffallend größeren rechten Auge, Piratenauge , in ein Hotel umwandelte: mit farbigem Mobiliar, roten Stühlen und blauen Tischen, die eines Tages den verschneiten Bürgersteig bewohnten, als wäre der ein Haus ohne Mauern.
    Jeden dritten Tag ging Anders ins neugegründete Kangerlussuaq Museum, ein langgestrecktes Gebäude, das ihn an die Saloons aus den Westernfilmen erinnerte, die allabendlich in der Anstalt liefen, kompakt und ebenerdig wie es war, mit kleinen, verhängten Fenstern und einer breiten Schwingtür, und jedes Mal, noch bevor er angesprochen werden konnte, verließ er die drei Räume mit den Fotografien, und die Zweige und Blätter eines Strauches trudelten, zusammengeknäult zu einer Kugel, an ihm und am Mast mit der amerikanischen Flagge vorbei.
    Seine Lieblingsbeschäftigung aber war, den Flugzeugen beim Starten und Landen zuzusehen. Wenn er an einer bestimmten Stelle dicht am Zaun des Flughafengeländes stand, flog die Maschine direkt über ihm zur Landung an, und er spürte den Wind, der so stark war, dass er sich am Gitter festhalten musste. Er liebte dieses Gefühl, für einen Moment, wenn er die Füße vom Boden hob, im Luftstrom mitzuschweben. Nur wenig später setzte sie auf, die Tür öffnete sich, eine Treppe wurde hinuntergelassen, und die Passagiere stiegen aus, manche winkten, alle lachten, und Anders stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wäre sein Vater unter ihnen.
    Als man nach zweihundertzwanzig Tagen endlich entdeckte, dass in Svea-Linns Zelle ein Kind wohnte, steckte man Anders, ausstaffiert mit einem Schild, in solch ein Flugzeug, und einige Stunden später öffnete sich die Tür, die Treppe wurde hinuntergelassen –
    aber es gab niemanden unter den Wartenden, dem Anders hätte zuwinken können.
    Idi folgt den Stufen auf das Dach.
    Sie kennt Amarâq nicht von oben, sie ist nie in einem Hubschrauber oder in einem Flugzeug geflogen, auch sind die Häuser so niedrig, dass sie die Welt noch nie aus dieser Höhe gesehen hat, und in der Dunkelheit, obwohl diese vom Glimmen der Straßenlaternen und Glosen der Wolken durchlöchert wird, erscheint sie ihr schrecklich fremd.
    Während sie sich von einem Ende des Daches zum anderen bewegt, ständig geht sie von rechts nach links und wieder zurück, vergisst sie ihren Cousin.
    Amarâq ist eine Welt des Augenblicks: Hier ist nichts planbar, weil die Natur gewaltsam nach Anerkennung verlangt, danach, dass ihre Anwesenheit akzeptiert und respektiert wird. Natur in Amarâq gewährt nur Unterschlupf, solange es ihr passt. Ist die Zeit der Duldung vorüber, gilt es, ein neues Arrangement auszuhandeln oder umzuziehen.
    Idis Kopf füllt sich mit den leisen Geräuschen und kargen Bildern der Nacht, und ihre Augen sind damit beschäftigt, die verwandelte Landschaft zu enträtseln, die sich, je nach Luftstrom, verengt und weitet. Mal erscheint sie geschrumpft durch die Wolken, die vor den Mond ziehen, dann wieder entledigt sie sich dieser Vermummung, wenn die Winde wiederkehren und Idi mit einem Mal so weit blicken kann, wie sie es in dieser Dunkelheit nicht für möglich gehalten hätte.
    In diesem Moment fällt ein Schuss in der Ferne.

4    Der Schuss ist nicht zu überhören.
    Sara läuft ans Fenster und blickt hinaus, es beunruhigt sie, dass sie nichts sieht, denn er kam von nebenan; sie fragt sich, ob sie die Polizei rufen soll.
    Sie öffnet das Fenster und beugt sich hinaus. Eigenartig, denkt sie, dass es hier nach fast nichts riecht. Am Fluss riecht es nach den Hunden, nach Kot und ihren Wohnhöhlen, sonst scheint das Land geruchsneutral, nicht einmal im Regen, der eine Geruchslupe ist, macht sich ein Geruch bemerkbar; nur, wenn man den Duft Amarâqs kennt, riecht man ihn.
    Sie schließt das Fenster wieder. Die Stille, die folgt, verschluckt alles, so radikal, so rücksichtslos, dass Sara meint, sich den Schuss eingebildet zu haben.
    Der Eisberg: zugleich Abstraktion und Reduktion der Natur auf Geometrie. Alles hat seine Entsprechung in Amarâq, der Himmel in den Fjorden, das Braun des Berges spiegelt sich im

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