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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Versuch abgestürzt.
    Hinter den Schuhregalen entdeckt Anders eine Tür, eine Geheimtür, wie ihm scheint, und doch ist sie unverschlossen. Er drückt den Griff hinunter und späht in einen schmalen, dunklen Gang: eine Röhre.
    Er kann nicht widerstehen.
    Er tritt in die Dunkelheit, steigt die Stufen hinauf, bis er an eine weitere Tür gelangt, und als er sie öffnet, umfängt ihn ein starker Wind, der Nachtwind, der sich auf dem Dach des Pilersuisoq staut, und Anders steht im Freien, mit Blick auf den Nordwesten der Stadt, vereinzelt flackern Lichter, und die Finsternis befreit die Landschaft von ihrer dritten Dimension. Alles erscheint nun als Ebene, alles scheint begehbar, und wenn es gerade keinen Grund unter den Füßen gibt, ist Anders überzeugt, wird ihn der Wind tragen, der aus allen Richtungen bläst.
    Er geht dicht an den Rand, stellt sich an die Dachkante und springt.
    Mildernde Umstände.
    Das Laiengericht sprach sich für mildernde Umstände aus, es hatte zu viele Todesfälle in der Familie in den Jahren vor Ivens Selbstmord gegeben, nicht mitgerechnet jene der Freunde und Bekannten, die es in den Wohnblocks, die in den Siebzigerjahren in Amarâq aufgestellt worden waren, nicht länger ausgehalten und sich, einer nach dem anderen, erhängt hatten, teils auf kleinstem Raum, neben dem Bett, vor dem Fenster, im Schrank, denn mehr hatte man ihnen nicht zugestanden, lediglich eine Wohnung von dreißig Quadratmetern, die laut Gesetz alles enthielt, was man zum Leben braucht, eine Küche, ein Badezimmer, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, die eigene Welt reduziert auf das Nötigste, und als die Epidemie , wie sie damals erstmals genannt wurde, nicht abriss, als sich die Wohnblocks solcherart zu leeren begannen, reisten ganze Gruppen von Psychologen nach Amarâq und interviewten die Bevölkerung. Warum, fragten sie, nehmen sich diese Menschen das Leben, sie haben doch alles, was man braucht, sie haben ein Zuhause und Geld für Nahrung, wir geben ihnen doch alles, und obwohl sie unter Beschimpfungen, Protesten und Demonstrationen ihre Befragungen fortsetzten, verstanden sie nicht, dass all das Geld, das von Dänemark nach Grönland floss, keine milde Gabe war, sondern die Bezahlung für eine Selbstaufgabe, die in diesem Ausmaß unbezahlbar war –
    manche ahnten es, blieben in Amarâq und versuchten wiedergutzumachen, was ihre Urgroßväter, Großväter und Väter angerichtet hatten, und sie erdachten die Theorie, dass die gewaltsame Modernisierung, die in den Fünfzigerjahren im Westen ihren Ausgang genommen hatte, die Menschen auf dem Gewissen habe, und sie sagten, dass die Kultur der Inuit, die den Selbstmord nicht verurteilt, zu seiner massenhaften Verbreitung beigetragen habe, und sie sagten, dass die Kolonialpolitik Identitätsprobleme verursacht habe, und all diese Theorien formten sie zu einer Waffe und richteten den Lauf auf die Opfer und sagten, aber ihr konntet nicht damit umgehen, weil ihr schwach seid, deshalb habt ihr zu trinken begonnen und bringt euch um.
    Mildernde Umstände.
    Svea-Linn war nicht nach Dänemark geschickt worden, sie durfte ihre Haftstrafe in Grönland absitzen. Institution für Verurteilte stand auf einem Schild über dem Gebäude, einer ehemaligen Militärbaracke mit glitzernden Fahrradständern und glänzenden Mülltonnen in dieser Transitstadt im mittleren Westen: Kangerlussuaq. Vier Jahre, hatte man festgelegt. Tagsüber putzte sie die Räume des Flughafens, abends kehrte sie in die Anstalt neben der Kirche zurück und schlief in einem Kämmerchen, das ein anderer Häftling blankgescheuert hatte. Nachdem sie die Hälfte ihrer Haftstrafe abgesessen hatte, zerriss sie das Leintuch in schmale Streifen, drehte diese zu einem Seil und knüpfte sich am Fenstergriff auf.
    Am nächsten Tag kam ihr Sohn in Kangerlussuaq an, er hatte einen Koffer bei sich, den ihm die Sozialarbeiterin geschenkt und gepackt hatte, mit all seinen Kleidern und Spielsachen für die nächsten zwei Jahre. Die Zelle seiner Mutter war leer, niemand sagte ihm, dass sie gestorben war, niemand beachtete ihn. So verbrachte er die nächsten Monate allein in ihrer Kammer, allein in den Gängen der Anstalt und versteckte sich, wann immer sich ein Häftling oder ein Aufseher näherte.
    Er sprach in dieser Zeit kein Wort und streifte für sich durch die Straßen Kangerlussuaqs, die ihm wie eine Geisterstadt erschien, nicht nur verlassen und leer, sondern leergeräumt, mit extrabreiten Pisten für Militärfahrzeuge,

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