Anatomien
Körper gesehen. Fast scheint es, als hätte es jemand bewusst so eingerichtet, dass wir möglichst dumm bleiben. Dann hinterfragen wir die Entscheidungen der Ärzte nicht. Dann fragen wir nicht, was mit uns eigentlich los ist, wenn wir krank werden und wenn wir sterben.
Trotzdem: Kopf hoch! Als einzige Gattung haben wir die wunderbare und furchtbare Fähigkeit zur Selbstreflexion. Warum sollten wir sie nicht nutzen, um uns mit unserem sterblichen Fleisch auszusöhnen?
Mit Anatomien will ich das auf meine Weise versuchen. Wie bei einem kulturgeschichtlich so reichen Thema wie dem Körper zu erwarten, beziehe ich mich nicht nur auf frühere und aktuelle Erkenntnisse der Medizin, sondern auch auf das, was Philosophen, Schriftsteller und Künstler über Körper und Körperteile gedachthaben. Der Körper ist keine bloße Sache – weder auf dem Seziertisch noch beim Aktzeichnen. Er lebt oder hat zumindest einmal gelebt. Ich widme mich deshalb dem aktiven Körper, der sich bewegt, der etwas tut und der Gedanken und Gefühle ausdrückt – etwas, das ebenso wichtig ist wie unsere Gene. Doch keine Sorge. Mit Beschreibungen der Fehlleistungen meines eigenen Körpers verschone ich Sie. Um es mit einem verfälschten Montaigne-Zitat zu sagen: „So bin ich selber, Leser, nicht der Inhalt meines Buches.“
Die Kapitel von Anatomien behandeln jeweils einen wichtigen Körperteil. Damit ergibt sich eine bestimmte Struktur, doch werden die einzelnen Kapitel auf weit mehr als nur den jeweiligen Körperteil eingehen. Wenn wir an einen Körperteil denken, an die inneren Organe und an äußerlich sichtbare Merkmale, greifen wir in der Regel nicht auf Vorstellungen zurück, die von der modernen Naturwissenschaft oder der Medizin geprägt worden sind, sondern von der Kultur, die unseren Körperteilen schon seit Langem bestimmte Symbole und Bedeutungen zugeordnet hat. Um diese Bedeutungen zu entdecken, müssen wir den Körper berühren, ihn anschauen und auf ihn hören, zu lange haben wir nur abstrakt über ihn nachgedacht, sodass wir ihn gar nicht mehr so genau kennen.
Besonders verbreitet ist zum Beispiel die Vorstellung, im Herzen wohne die Liebe. „Komm, nimm dich eines wunden Herzens an“, schrieb etwa der englische Dichter Robert Herrick vor vierhundert Jahren in einem großartigen Gedicht über die unerwiderte Liebe. Hat das heute etwas zu bedeuten? Dem Einzelhandel ist es wichtig – allein in Großbritannien setzt er zum Valentinstag über zwei Milliarden Pfund um. Auf Millionen von Grußkarten steht das Herz als Symbol der Liebe. Auf seinem pulsierenden Rhythmus beruht unser Vergnügen an jambischer Dichtung und den Beats der Rockmusik.
Lange sagte man, das Auge halte im Moment des Todes das letzte Bild fest. Wurde diese irrige Auffassung je korrigiert? Wenn ja, kann es noch nicht lange her sein. Noch 1888 fotografierte die Londoner Polizei die Augen von Mary Jane Kelly, eines vermeintlichen Opfersvon Jack the Ripper, weil sie hoffte, das Bild des Täters in ihnen entdecken zu können.
Das ist ein Beispiel für frühe Versuche, unseren menschlichen Körper zu verstehen und mit ihm klarzukommen. Die moderne Medizin wird durch sie oft stärker geprägt, als sie sich das eingesteht. Beim Blut zum Beispiel. In den Fragebögen, die ein potenzieller Blutspender ausfüllen muss, spiegeln sich heute noch uralte Tabus und Ideale der Blutreinheit eines Stammes. Auch unsere Einstellung gegenüber der Organspende wird durch kulturelle Vorurteile geprägt. Die meisten Spender oder Angehörigen, die die Organentnahme einschränken möchten, denken an Herz und Augen, weil sie sich das Herz als den Wesenskern eines Menschen und die Augen als Fenster zur Seele vorstellen.
Aus der Kunst erfahren wir manches über den Körper, was uns Medizin und Biologie verschweigen. Der Kopf ist ein so wichtiger Körperteil, dass er für den ganzen Körper einstehen kann. Das sieht man daran, dass Bildhauer Büsten erschaffen oder dass das Passbild nur den Kopf zeigt. Wie wäre es, wenn nur die Nase für einen Menschen stehen sollte? In Nikolai Gogols Kurzgeschichte Die Nase verabschiedet sich eine Nase von ihrem Träger und geht in St. Petersburg spazieren. Ihr nasal benachteiligter Ex-Besitzer verfolgt sie. Die Satire spielt damit, dass die Nase sich die gesellschaftlichen Ambitionen ihres Besitzers zu eigen macht. Gogol stellt uns vor die Frage, warum bestimmte Körperteile die Identität eines Menschen verkörpern und andere nicht. Vor allem
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