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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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länger durchhalten. Im Klartext: Das Gehirn fragt die Blase, ob sie es ernst meint. Wenn die Blase signalisiert, dass sie geblufft hat, instruiert das Gehirn die Muskeln der Blasenwand, sich wieder zu entspannen und zu warten, bis noch etwas mehr Urin da ist. Das spielt sich alles ab, während Sie schlafen, sodass Sie erst geweckt werden, wenn es wirklich sein muss. Es ist wie beim Snooze-Knopf Ihres Weckers.
    In den Lehrbüchern steht kaum etwas davon, dass dieses bemerkenswerte System schon in den mittleren Lebensjahren nicht mehr richtig funktioniert. Ich versuche, es mir zu erklären. Vielleicht zieht sich die Blase zusammen und muss deshalb öfter geleert werden. Oder sie weitet sich und die Dehnungsrezeptoren werden häufiger beansprucht. Vielleicht werden die Dehnungsrezeptoren selbst sensibler. Vielleicht funktioniert die Nervenverbindung zwischen Gehirn und Blase nicht mehr so gut und verschickt Falschmeldungen. Vielleicht gerät ein alterndes Gehirn in Panik und geht lieber auf Nummer sicher. Man könnte sich noch mehr Gründe vorstellen. Ich bitte schließlich einen befreundeten Arzt, mir die Sache zu erklären. „Ich habe auch schon versucht, das herauszufinden“, sagt er, aber er habe inzwischen selbst mehr Fragen als Antworten. Schließlich legt er meine Bitte einem Urologen vor. Ich erfahre, dass man im Alter einfach im Schlaf mehr Urin produziert. Das ist, gelinde gesagt, eine unbequeme Wahrheit.
    Mir kommt es absurd vor, dass ich so aufwendige Recherchen anstellen muss, nur um etwas über eine ganz banale Körperfunktion herauszufinden. Dabei habe ich noch kompliziertere Fragen. Ist die Blase einfach eine „Tasche“ oder nicht doch etwas Spezielleres? Ist sie ein Organ? Was zeichnet ein Organ aus? Wo fangen Organe an, wo hören sie auf? Medizinstudenten kaufen sich gern ein Plastikskelett und ein Plastikmodell des Körpers mit bunten, herausnehmbaren Organen. Ist der Körper wirklich so? Oder sind die Organe kulturelle Erfindungen, Behälter für bestimmte Vorstellungen, die wir uns vom Leben machen, und gar nicht so sehr biologische Gegebenheiten? Ist es überhaupt sinnvoll, von Körper teilen zu sprechen? Wem scheint das sinnvoll? Und wenn es sinnvoll sein sollte, ist dann der Körper nur die Summe seiner Teile oder noch mehr? Immerhin dachte Aristoteles gerade an den menschlichen Körper, als er in seiner Metaphysik die längst überstrapazierte Redewendung „mehr als die Summe seiner Teile“ prägte. Und wenn der Körper wirklich mehr als die Summe seiner Teile ist, was ist dann dieses Mehr?
    Mit Anatomien will ich meine lückenhafte biologische Bildung aufbessern und Antworten auf diese Fragen finden. Wie so viele Menschen weiß ich erbärmlich wenig darüber, wie mein Körper funktioniert – oder manchmal auch nicht funktioniert. Die es wissen, die Ärzte, wollen ihr Wissen offenbar für sich behalten und hüten ihre Arkana mithilfe langer Wörter, allzu simpler Erklärungen und den berühmten unleserlichen Rezepten.
    Der menschliche Körper ist natürlich ein schwieriges Thema. Womöglich weil er uns so nahe ist. Er wird immer wieder als Wunder der Natur bezeichnet – und doch ziehen wir es vor, dieses Wunder nicht allzu genau zu beobachten. Wenn alles in Ordnung ist, ignorieren wir ihn. Das soll wohl so sein, denn immerhin verbringt auch kein anderes Tier seine Zeit damit, über seine Gesundheit nachzudenken. Ist er uns also egal, solange er keine Scherereien macht? Nein, denn oft schämen wir uns für unsere Körper, oft sind sie uns peinlich.
    Zugleich werden wir mit Körperbildern bombardiert. Immer sind es Körper, die perfekter sind als unser eigener. Sie sehen besser aus (Supermodels) und sind leistungsfähiger (Superhelden), auch wenn sie eigentlich das Gleiche wie wir tun. Diese Stellvertreter erinnern uns daran, dass unser Körper ein Teil der Welt ist. Durch unseren Körper nehmen wir die Welt wahr und gehen mit ihr um. An unseren Körpern erkennt man uns.
    Trotzdem bereiten unsere Körper uns Sorgen. Wir verstecken sie unter Kleidern. Wir lenken durch Schmuck, Frisuren, durch ein Sammelsurium von Posen und Gesten, durch Stimme und Mimik von ihm ab, bis all das unsere Identität ausmacht. Dank der modernen Medizintechnologie treiben wir es mit diesen Manipulationen immer weiter. Vom Gehirnjogging bis zur Brustvergrößerung wollen wir Geist, Persönlichkeit, Gesicht und Körper verändern. Das tun wir natürlich schon seit Langem – heutzutage fügen wir der langen

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