Anatomien
Einleitung
Irgendwann im Leben kommt der Moment, in dem wir begreifen, dass wir nicht ewig leben werden. Das ist eine ganz selbstverständliche Einsicht – und doch widerspricht sie unseren grundlegendsten Empfindungen. Es ist ein Schock.
Seien wir ehrlich. Ihrem Geist fällt es überhaupt nicht schwer, sich ein ewiges Leben vorzustellen. Einfach weitermachen wie bisher, warum auch nicht? Der Kopf hat damit kein Problem – nur unser Körper. Er funktioniert irgendwann nicht mehr reibungslos. Er beschäftigt sich immer mehr mit sich selbst, meldet sich immer öfter, teilt Ihnen seine Kümmernisse und Bedürfnisse mit: Denk doch auch mal an mich! Hört mir denn gar keiner zu? Hör auf, das tut weh! Oder: Ich muss mal. Dann antwortet Ihr Geist verschlafen: „Was, jetzt? Es ist drei Uhr morgens.“ – „Ja, jetzt!“
In der Schule war für mich nach der achten Klasse mit Biologie Schluss, obwohl ich gerade langsam anfing, mich für die Naturwissenschaften zu interessieren. Alle zwei Wochen eine Unterrichtseinheit und dann gar keine mehr, heute kommt es mir sträflich vor, dass so etwas überhaupt möglich war – nicht nur weil damals längst klar war, dass Biologie das naturwissenschaftliche Fachgebiet war, auf dem am meisten zu entdecken war, sondern weil jeder von uns der Eigentümer und Betreiber eines menschlichen Körpers ist. Und die beste Zeit, etwas über ihn zu lernen, ist doch sicher die Schulzeit. Ich wurde also mit diesem komplexen biologischen Organismus, über den ich fast gar nichts wusste und den ich mit etwas Glück noch ungefähr siebzig Jahre lenken und beleben sollte, alleingelassen.
Infolge dieser Bildungslücke und meiner geistigen Trägheit fällt mir auf die Bitte um einen Klogang um drei Uhr morgens keine gescheite Antwort ein. Ich habe keine Ahnung, wie meine Blase funktioniert oder warum sie heute offenbar anders funktioniert als früher, als ich jünger war. Und Sie wissen das vielleicht auch nicht so genau.
Ich stelle mir mit Müh und Not eine Art wasserdichten Ballon vor, der voll wird und dann ausgeleert werden muss und der sich irgendwo in meinem Unterleib befindet. Genauere Informationen müsste ich in einem der Lehrbücher für Biologiestudenten nachschlagen – das sind Bücher wie Betonplatten voller mehrfarbiger, aber langweiliger Illustrationen. Ich durchsuche das Register nach dem Begriff „Blase“. Er fehlt. Offenbar muss ich meine einfache Frage erst einmal in eine spezielle Fachsprache übersetzen. Nach kurzem Nachdenken wende ich mich dem „H“ zu, in der Hoffnung, dort auf „Harnorgane“ zu stoßen.
Schließlich erfahre ich, dass die Harnblase ein dehnbarer, aus dünnen Muskelschichten bestehender Behälter ist. Innen ist die Harnblase mit einer Schleimhaut versehen, sodass sie wasserdicht ist. Wenn sie voll ist, bläht sie sich bis zur Größe und Form einer riesigen Avocado auf. Sie enthält dann gut einen halben Liter Urin (oder einen ganzen Liter, wenn man einem anderen Lehrbuch Glauben schenkt). Das beigefügte Röntgenbild, das als Pyelogramm bezeichnet wird (muss ich dieses Wort wirklich kennen?), zeigt mithilfe eines künstlich zugeführten Kontrastmittels, wo im Körper sich das Harnsystem befindet. Vor mir liegt ein knolliger Hohlraum, der unten an der Wirbelsäule sitzt und von den Beckenknochen gehalten wird. Als dünne Striche gehen die beiden Harnleiter ab, die auf ihrem Weg zu den Nieren hoch das Rückgrat umfangen. Beide teilen sich erst in zwei, dann in fünf und schließlich in noch viel mehr dünnere Kanäle, die in die Tiefen der Nieren führen, etwa auf der Höhe der untersten Rippe. Das Bild ist eigentlich ganz schön, es sieht aus wie zwei langstielige Iris-Blumen in einer zwiebelförmigen Vase.
Die Harnleiter sind Muskelschläuche, die den von den Nierenproduzierten Urin in die Blase drücken. Wenn die Blase sich füllt, werden Dehnungsrezeptoren in der Muskelwand stimuliert. Diese senden Signale an das Gehirn, wo sie als Aufforderung zum Wasserlassen interpretiert werden.
Na ja, irgendwie so. In Wirklichkeit ist das System allerdings schlauer. Die Blase testet mit ihren ersten Signalen erst einmal, ob Sie überhaupt aufpassen. Das Gehirn verschickt als Antwort auf eine solche Neuigkeit eine Nachricht, die die Blase anweist, ihre Muskeln ein bisschen zu verkürzen, womit der Druck auf die Flüssigkeit steigt. Damit will der Körper prüfen, ob die Muskeln, die in entspanntem Zustand den Abfluss des Urins ermöglichen, noch etwas
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