ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
Menschenwelt erschien ihr weit größer als die ihre. Sie konnten zu Schiff über die Meere fliegen, auf die hohen Berge weit über den Wolken steigen, und ihre Länder erstreckten sich mit Wäldern und Feldern weiter, als sie blicken konnte. Da war so vieles, was sie gern wissen wollte, aber die Schwestern konnten ihr auf viele Fragen keine Antwort geben, deshalb fragte sie die alte Großmutter, denn diese kannte die höhere Welt, wie sie sehr richtig die Länder oberhalb des Meeres nannte, recht gut.
"Wenn die Menschen nicht ertrinken," fragte die kleine Seejungfer, "können sie dann ewig leben? Sterben sie nicht, wie wir hier unten im Meere?"
"Ja", sagte die Alte, "sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer als die unsere. Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir dann aufgehört haben, zu sein, so werden wir in Schaum auf dem Wasser verwandelt und haben nicht einmal ein Grab hier unten zwischen unseren Lieben.
Wir haben keine unsterbliche Seele; wir erhalten nie wieder Leben. Wir sind gleich dem grünen Schilfe, ist es einmal abgeschnitten, so kann es nie wieder grünen. Die Menschen dagegen haben eine Seele, die ewig lebt, die lebt, auch wenn der Körper zu Erde zerfallen ist. Sie steigt auf in der klaren Luft und zu all den schimmernden Sternen empor! Gerade wie wir aus dem Meere auftauchen und die Länder der Menschen sehen, so tauchen sie zu unbekannten, herrlichen Orten empor, die wir niemals erblicken werden."
"Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?" sagte die kleine Seejungfer betrübt, "ich wollte alle meine hundert Jahre, die ich zu leben habe, dafür hingeben, einen Tag ein Mensch zu sein und Teil zu haben an der himmlischen Welt!"
"So etwas mußt du nicht denken!" sagte die Alte, "wir sind viel glücklicher und besser daran, als die Menschen dort oben!"
"Ich muß also sterben und als Schaum auf dem Meere treiben, und darf nicht mehr der Wellen Musik hören, die herrlichen Blumen und die rote Sonne sehen. Kann ich denn gar nichts tun, um eine unsterbliche Seele zu gewinnen?"-
"Nein", sagte die Alte. "Nur wenn ein Mensch dich so lieb gewinnt, daß du für ihn mehr wirst, als Vater und Mutter, wenn er mit allen seinen Gedanken und seiner Liebe an dir hinge und den Priester deine rechte Hand in seine legen ließe mit dem Gelübde der Treue hier und für alle Ewigkeit, dann würde seine Seele in deinen Körper überfließen und du bekämest auch Teil an dem Glücke der Menschen. Er gäbe dir eine Seele und behielte doch die eigene. Aber das kann niemals geschehen! Was hier im Meere gerade als schön gilt, dein Fischschwanz, das finden sie häßlich oben auf der Erde, sie verstehen es eben nicht besser. Man muß dort zwei plumpe Säulen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!"
Da seufzte die kleine Seejungfer und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.
"Laß uns fröhlich sein," sagte die Alte, "hüpfen und springen wollen wir in den dreihundert Jahren, die wir zu leben haben, das ist eine ganz schöne Zeit. Später kann man sich um so sorgenloser in seinem Grabe ausruhen. Heute abend haben wir Hofball!"
Das war eine Pracht, wie man sie auf der Erde nie sehen konnte. Wände und Decke in dem großen Tanzsaal waren aus dickem, aber klarem Glase. Mehrere hundert riesige Muschelschalen, rosenrote und grasgrüne, standen in Reihen an jeder Seite mit einem blau brennenden Feuer, das den ganzen Saal erleuchtete und durch die Wände hinausschien, so daß die See draußen ebenfalls hell erleuchtet war. Man konnte all die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern schwammen. Bei einigen schimmerten die Schuppen purpurrot, bei anderen wie Silber und Gold. Mitten im Saale floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweiblein zu ihrem eigenen herrlichen Gesang. So süßklingende Stimmen gibt es bei den Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfer sang am schönsten von allen, und alle klatschten ihr zu, und einen Augenblick lang fühlte sie Freude im Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von allen im Wasser und auf der Erde hatte! Aber bald dachte sie doch wieder an die Welt über sich; sie konnte den schönen Prinzen nicht vergessen und auch nicht ihren Kummer darüber, daß sie nicht, wie er, eine unsterbliche Seele besaß.
Deshalb schlich sie sich aus ihres Vaters Schloß, und während alle drinnen sich bei Gesang und Fröhlichkeit
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