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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Halbkreis aus trübgelbem Licht ein kleines
Bahnhofsgebäude sowie ein verwittertes, kaum lesbares Schild.
Sie war angekommen.
    Schneidende Kälte empfing sie auf dem Bahnsteig. Die
wenigen Menschen, die ebenfalls den Zug verließen, flatterten
durch die Dunkelheit wie aus dem Schlaf geschreckte Tauben.
Von Stella war nichts zu sehen. Der Bahnhofsvorsteher, ein
betagter, misstrauischer Mann, klärte Glass in einer aus harten
Konsonanten bestehenden Sprache und heftig gestikulierend
darüber auf, dass es am Ort keine Taxis gebe. Stellas Briefen
zufolge war Visible leicht zu Fuß zu erreichen, es lag höchstens
eine Viertelstunde außerhalb der Stadt, am Waldrand jenseits
eines schmalen Flusses. Entnervt von den Blicken des alten
Mannes, die wie neugierige Hände ihren Bauch abtasteten, und
unablässig die lausige Kälte verfluchend, stapfte Glass in die
Richtung, die ihr der Bahnhofsvorsteher gezeigt hatte, nachdem
sie mehrfach Stellas Namen wiederholt hatte.
    Sie hatte die Brücke, die den Stadtrand mit dem angrenzenden
dichten Wald verband, kaum überquert, als ihr Unterleib sich
wie ein Akkordeon ruckartig zusammenzog. Krämpfe jagten in
Wellen durch ihren Körper, gefolgt von einer dumpfen,
ziellosen Übelkeit, Glass atmete tief durch und zwang sich,
ruhig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Blindlings
draufloszulaufen war sinnlos. Kurz hinter der Brücke hatte ein
Waldweg die asphaltierte Straße abgelöst. Der Boden war fest
gefroren, er lag unter einer dünnen, verharschten Schneedecke.
Wenn sie jetzt rannte, wenn sie darauf ausrutschte, wenn sie
stürzte…
    Aus dem Unterholz erklang ein leises Knacken. Für einen
schreckerfüllten Augenblick glaubte Glass lang gestreckte,
dahinhuschende Schatten neben sich zu sehen, streunende
Hunde, Wölfe vielleicht, zusammengetrieben von Hunger und
Kälte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, hob abwehrbereit ihren
Koffer, der ihr plötzlich viel zu klein erschien, und lauschte, in
halb gläubiger, halb ungläubiger Erwartung eines drohenden
Knurrens, in den Wald.
    Nichts.
Die nächste Wehe ließ auf sich warten, und Glass marschierte
weiter, von plötzlicher Wut auf sich selbst erfüllt. Nichts wusste
sie über dieses Land, auf das sie sich so kurz entschlossen
eingelassen hatte, nichts, nicht einmal, ob es hier Wölfe gab
oder nicht. Und dann teilten sich die Baumreihen, und ihre Wut
verebbte, als sich vor ihr Visibles Silhouette unvermittelt in den
Nachthimmel erhob. Überrascht sog Glass Luft durch die
zusammengebissenen Zähne. Nie hatte sie sich das Haus so
groß vorgestellt, nie so wirklich… nicht wie ein Schloss. Sie
erkannte die Umrisse von Zinnen, Erkern und kleinen
Schornsteinen, unzählige verriegelte Fenster, eine überdachte
Veranda. Hinter zwei hohen Fenstern im Erdgeschoss brannte
schwaches, orangerotes Licht.
Glass wollte eben einen erleichterten Schritt zwischen den
Bäumen hindurch machen, als ohne Vorwarnung ihre Knie
nachgaben. Sie sackten einfach ein, als hätte man ihr einen
Teppich unter den Füßen fortgerissen. Glass stürzte nach vorn.
Instinktiv riss sie die Arme hoch, der Koffer entglitt ihr, und
noch ehe sie auf dem harten Boden aufschlagen konnte,
schlossen sich ihre Hände um den Stamm einer vor ihr
aufragenden jungen Birke. Warme Flüssigkeit rann an ihren
Schenkeln herab, wurde sofort zu Eiswasser und versickerte in
ihren kurzen Strümpfen. Die Innenflächen ihrer Hände
schmerzten, sie hatte sich die Haut aufgerissen. Keuchend zog
sie sich an der Birke empor. Die nächste Wehe fuhr durch ihren
Körper wie ein Axthieb.
Glass umklammerte den Baumstamm, warf den Kopf in den
Nacken und schrie auf. Undeutlich nahm sie wahr, dass jemand
aus dem Haus gelaufen kam, eine junge Frau mit langen
Haaren, in der Dunkelheit von dumpfem Rot, eine Farbe, die
Stellas Haar nie besessen hatte. Und Glass’ nächster Schrei galt
nicht dem winzigen Mädchen, das sich beinahe mühelos
zwischen ihren Beinen in die Welt drängte, sondern den
aufgeregten Worten dieser jungen Frau, denn Stella war tot, sie
war tot, war tot, und es gab keine Möglichkeit, hier und jetzt
eine Hebamme zu Hilfe zu rufen, denn die Telefonrechnungen
waren seit langem nicht beglichen worden, die Leitung
abgestellt. Also hastete die junge Frau zurück ins Haus und kam
mit Decken wieder, in die sie das Mädchen bettete, während
Glass sich weiterhin gegen den Baum stützte, wo sie so lange
presste und keuchte und schrie,

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