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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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geliebt, auch nach deren Weggang aus Amerika. Die
Mutter der beiden war früh gestorben, am Großen K, wie Glass
es nannte, und der Vater hatte sich an geistigen Getränken
deutlich interessierter gezeigt als am Schicksal seiner Töchter.
Dass beide nach Europa verschwanden, nahm er so betrunken
wie gleichgültig auf. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.
Als ich Glass irgendwann auf meinen Großvater ansprach, sagte
sie knapp, der amerikanische Kontinent habe ihn verschluckt
und werde ihn hoffentlich nie wieder ausspucken. Nach der
ersten Trauer um Stella betrachtete sie deren Tod von der
pragmatischen Seite. Einer von Glass’ Lieblingssprüchen ist,
dass nichts geht, ohne dass etwas anderes dafür kommt. Der
Tod hatte ihr Stella genommen und dafür Tereza gegeben: kein
schlechter Tausch.
    Ein ortsansässiger Anwalt wurde von der Stadtverwaltung
damit beauftragt, die Papiere der toten Amerikanerin zu sichten
und ausfindig zu machen, ob es Verwandte in Übersee gab. Der
viel beschäftigte Mann schickte eine Praktikantin nach Visible,
eine junge Frau mit langen roten Haaren, die sich – nach einem
ersten gehörigen Schrecken – recht geschickt dabei anstellte,
zwei neuen Verwandten Stellas in die Welt zu helfen. Tereza
stammte aus der Stadt, der sie jedoch schon vor Jahren den
Rücken gekehrt hatte, um irgendwo im Norden Jura zu
studieren.
    In der vor Kälte starrenden Nacht, die Diannes und meiner
Geburt vorausging, war Tereza, die sich für die Dauer ihrer
Untersuchung mit einem Schlafsack in Visible einquartiert
hatte, fündig geworden. Stella hatte tatsächlich ein Testament
hinterlassen. Darin erklärte sie ihre Schwester Glass zur
alleinigen Erbin Visibles und ihres gesamten Nachlasses. Die
Sache gestaltete sich schwierig, es gab rechtliche Probleme –
Glass war nicht volljährig, sie war Amerikanerin, und sie besaß
keine Aufenthaltserlaubnis. Dass sie nur Englisch sprach,
machte die Angelegenheit nicht einfacher.
    Tereza nahm Glass unter ihre Fittiche und setzte sich bei dem
Anwalt für sie ein. Der Mann mochte Tereza, er fand Gefallen
an Glass, und er hatte Freunde, die wiederum Freunde in hohen
Positionen hatten. Mehr als zwei Augen wurden zugedrückt,
Gesetze vorsichtig gebeugt, Bestimmungen geschickt umgangen
und wohlwollende Schreiben verfasst. Schließlich durfte Glass
bleiben, doch das war nur ein erster Schritt. Stella hatte kaum
Barvermögen hinterlassen, aber Geld war das, was Glass
dringend benötigte. Visible zu verkaufen kam für sie nicht in
Frage. Das Haus war mehr als nur Stellas Vermächtnis – es war
das Dach über den Köpfen ihrer winzigen neuen Familie.
Wieder war es Tereza, die sich einschaltete. Über Freunde an
der Universität versorgte sie Glass mit Schreibarbeiten, die aus
der Erledigung umfangreicher englischer Korrespondenz oder
im Zusammenfassen von Artikeln aus internationalen
Fachzeitschriften bestanden.
    Ein Jahr bevor Tereza das Studium beendete, starb ihr seit
langem verwitweter Vater, ein halbwegs berühmter, emeritierter
Professor für Botanik, der einzige Gelehrte, den die Stadt je
hervorgebracht hatte. Plötzlich war Tereza eine vermögende,
aber heimatlose Frau – sie mochte das Haus ihres Vaters nicht
allein bewohnen, und so verbrachte sie ihre Semesterferien
regelmäßig in Visible. Sie hütete Dianne und mich, während
Glass zunächst Sprachkurse besuchte und sich dann in der
Abendschule zur Sekretärin ausbilden ließ.
    Dianne und ich waren inzwischen vier Jahre alt und zutraulich
wie junge Hunde. Wir hatten Tereza sofort ins Herz
geschlossen. Als Gegenleistung ruinierte sie unsere Milchzähne
mit Popcorn, das sie allabendlich zubereitete, bevor sie uns in
die Betten steckte. Dort kauten wir das klebrig süße Zeug aus
zersprungenen bunten Schüsseln, während Tereza uns Märchen
vorlas. Meistens schlief sie darüber noch vor uns ein, dann
deckten wir sie mit einer Wolldecke zu und steckten ihr
Maiskörner in die Nasenlöcher. In unsere Liebe zu ihr mischte
sich eine gehörige Portion Ehrfurcht; schließlich hatte Tereza,
wie die Hexen in den Märchen, rote Haare. Sie konnte kleine,
panische Nervenbündel aus uns machen, wenn sie damit drohte,
uns in Frösche zu verwandeln.
    Nach dem Examen arbeitete Tereza in einer Anwaltskanzlei.
Zwei Jahre später hatte sie genug Erfahrung gesammelt, um in
der nächstgrößeren Stadt eine eigene Kanzlei zu eröffnen, und
natürlich benötigte sie eine

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