Andreas Steinhofel
Antworten gegeben. Dabei wird es, wenn es
nach mir geht, auch bleiben.
»Komm schon… irgendwas.«
»Glass hat nie über ihn geredet.«
»Tatsache?«
»Sie hat…« Ich suche nach den richtigen Worten und starre
dabei auf die im Sonnenlicht glänzenden roten Dächer der Stadt.
Man kann die über ihnen vibrierende Luft sehen, die von der
Hitze in kräuselnder Bewegung gehalten wird. »Sie hat einen
Strich gezogen. Es gibt ein Leben, das sie in Amerika führte,
über das sie mit Dianne und mir nie gesprochen hat. Gut, ich
weiß ein bisschen über meine Großeltern, aber das sind
langweilige Geschichten über langweilige Leute.«
Irgendwann in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts
waren unsere Vorfahren von Europa nach Amerika gegangen,
unzufrieden mit der wirtschaftlichen und der politischen
Situation in ihrer Heimat. Sie überquerten den Atlantik in
kleinen, schlecht kalfaterten Schiffen, sie meisterten Stürme und
Kälte, Hunger und Krankheit, und bald darauf verteilten sich
ihre Nachkommen wie vom Wind getriebener Löwenzahnsamen
über den Kontinent, den sie Gottes eigenes Land nannten, Home
of the Brave, Land of the Free. Und tapfer waren sie tatsächlich
gewesen, auch frei, nur Wurzeln hatten sie nie wirklich
geschlagen. Die wenigsten waren in den großen, aufstrebenden
Städten gelandet. Der weitaus größere Teil machte sich, beseelt
von Pioniergeist und erfüllt von einem Freiheitswillen, der kein
Hindernis scheute, auf den beschwerlichen Weg zur frontier, der
mythischen Grenze im Westen, hinter der, so glaubte man, das
Ende des Regenbogens auf einen wartete.
»Und mein Vater…«, fahre ich fort. »Es ist nicht so, als hätte
ich nie versucht, etwas über ihn rauszukriegen. Aber Glass
macht dann einfach dicht.«
»Es nervt dich, oder?«
»Irgendwie schon«, gebe ich widerwillig zu. Dass Nummer
Drei sie hatte sitzen lassen, ist der einzige mir bekannte Grund,
der meine Mutter zum Sprung über den Großen Teich bewegt
hat. »Es ist so… unvollständig.«
Ich denke an die Liste, die ich vor einigen Jahren zufällig
zwischen Glass’ Papieren gefunden habe, eine Liste, die ihre
Männer aufführte, säuberlich durchnummeriert und mit Namen
und den Daten versehen, an denen, wie ich annahm, Glass mit
ihnen geschlafen hatte. An einer Stelle stand lediglich eine Zahl.
Es war ein Leichtes gewesen, vom Tag meiner und Diannes
Geburt bis zu dem Datum zurückzurechnen, das neben der
Nummer Drei stand.
Ich weiß nicht, ob diese Liste heute noch existiert. Damals
hatte sie etwa fünfzig Einträge. Ob das eine große oder kleine
Zahl ist, vermochte ich nicht zu beurteilen. Auf mehr als zehn
Jahre verteilt erschienen mir fünfzig Affären nicht besonders
viel, was daran liegen mochte, dass die wenigsten Männer,
wenn Glass sie überhaupt mit nach Hause gebracht hatte, öfter
als einmal in Visible aufgetaucht waren. In meiner Erinnerung
schieben sich ihre Gesichter wie graue Phantomzeichnungen
übereinander, vage und austauschbar. Sie haben keinen Anteil
an meinem Leben genommen, und so bleiben sie, auch wenn sie
Namen besitzen, letztendlich dasselbe für mich, was sie für
Glass waren: Nummern auf einem weißen Blatt Papier.
Natürlich gibt es Ausnahmen – Martin mit den grünen Augen
und dem Geruch nach Gartenerde ist eine davon, und später war
da Kyle, der Bogenschnitzer mit den schönen Händen -, doch
über allen Ausnahmen thront jener Mann, der anstelle eines
Namens mit der Zahl Drei auf der Liste steht.
»Hättest du gerne einen? Einen Vater?« Kat hat etwas Moos
aus den Mauerritzen gezupft, das sie zwischen den Fingern zu
einer kleinen grünen Kugel zusammenrollt. »Ich meine,
vermisst du ihn irgendwie?«
»Wie sollte ich ihn vermissen?«, schnappe ich, »Ich hab ihn
schließlich nie gekannt.«
Kat weiß sehr genau, dass sie in gefährlichen Gewässern
fischt. Sie kann ein echtes Miststück sein. Mit dreister
Beharrlichkeit wird sie ihre Finger auf genau die wunden
Stellen meiner Seele legen, vor denen selbst ein Psychiater
zurückschrecken würde. Schwarze Löcher. Komm ihnen zu
nahe, und bevor du weißt, wie dir geschieht, verschlucken sie
dich. Doch was für mich schwarze Löcher sind, nennt Kat
›weiße Flecken auf der Landkarte deiner Psyche‹. Geduldig füllt
sie diese Flecken aus, wann immer sich ihr eine Gelegenheit
dazu bietet, und es kümmert sie herzlich wenig, wenn sie dabei
Grenzen übertritt.
So wie jetzt.
»Du weißt immerhin, dass
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