Angel Eyes. Zwischen Himmel und Hölle (German Edition)
«Schicksal» nicht gibt – das ist nur eine faule Ausrede der Menschen, abenteuerliche Entscheidungen zu treffen, für die sie sonst nicht den Mut hätten, aber das hier ist definitiv ein Zeichen. Deshalb schaue ich mir Frannie noch einmal genauer an. Falls sie Diejenige ist, wonach es immer mehr aussieht, dann muss ich ihre Seele markieren, ehe irgendein windiger Engel mir zuvorkommt. Was bedeutet, ich muss mich ranhalten. So schwierig, wie es war, sie zu lokalisieren, ist es durchaus möglich, dass sie von ihnen beschützt wird. Und wenn das so ist, dann werden sie Frannie nicht aus den Augen lassen und schon bald wissen, dass ich sie gefunden habe. Prüfend betrachte ich die Schüler ringsum, sehe aber nur Kandidaten und nicht die Spur eines Engels. Bis jetzt jedenfalls.
Frannie überquert den Flur zu ihrem Schließfach. Für einen Moment bleibe ich zurück, um sie mir mal von hinten anzusehen. Sie ist wirklich zierlich, vielleicht eins fünfundfünfzig und somit fast dreißig Zentimeter kleiner als meine menschliche Gestalt. Ein kleines Mädchen ist sie jedoch nicht, denn sämtliche Kurven sitzen an den richtigen Stellen.
Dass mir das überhaupt auffällt, ist ausgesprochen merkwürdig. Zwar zählt die Fleischeslust zu den sieben Todsünden, aber sie war es nicht, die mich dahin gebracht hat, wo ich jetzt bin. In den siebentausend Jahren meines Lebens habe ich sie tatsächlich nur selten empfunden, auch wenn ich sie bei anderen durchaus für meine Zwecke zu nutzen weiß. Dieser Auftrag scheint doch spannender als gedacht zu werden.
Ich folge Frannie und stelle die Zahlenkombination ein. Die Tür meines Schließfachs springt auf.
«Wie hast du das gemacht?», fragt Frannie verdutzt.
«Was?»
«Früher hatte ich dein Fach, aber da war das Schloss kaputt.»
«Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es repariert worden.» Verflixt, ich muss vorsichtiger werden. Dieser kleinen Sterblichen entgeht nichts. Schon im Unterricht habe ich Mist gebaut und vorgelesen, ohne ins Buch zu schauen. Was ihr aufgefallen ist, weil sie die Augen auch anderswo hatte. Und jetzt die Sache mit dem Schließfach, dessen Schloss tatsächlich kaputt ist.
Frannie wirkt skeptisch. «Hier wird nie was repariert. Willkommen in der Hades High.»
Was zum Teufel soll das nun wieder bedeuten? «Ich dachte, sie heißt Haden High?»
«Wir nennen sie aber Hades High. Hades wie Hölle. Die Schule ist nämlich ein echtes Höllenloch.»
«Oh – ach so.»
«Findest du etwa nicht?» Mit ausholender Geste umfasst Frannie die Risse im Gipsverputz der Decke, die ausgebrannten Glühbirnen, die blätternde Wandfarbe, den ausgetretenen Linoleumboden und die verbeulten Metallschließfächer ringsum.
«Na, dann bin ich hier ja genau richtig», entgegne ich vergnügt. Meine Zielperson besucht eine Schule, deren Spitzname ein Synonym für die Unterwelt ist. Besser kann es gar nicht mehr werden.
Frannie kramt in ihrem Schließfach, doch um ihre Mundwinkel zuckt ein Lächeln. «Wenn du dich hier genau richtig fühlst, dann bist du noch schlimmer, als ich dachte.»
Ich bin sogar um einiges schlimmer, und wenn ich Frannie Cavanaugh wäre, würde ich jetzt die Beine in die Hand nehmen. Doch da fange ich einen Hauch Ingwer auf, und mich überläuft ein angenehmer Schauer. Anscheinend steht sie auf schlimme Typen.
Sie dreht sich zu mir um. «Warum hast du eigentlich so kurz vor dem Abschluss die Schule gewechselt?»
Ich zucke mit den Schultern. «Berufliche Gründe.»
«Ach so, dann lag es an deinem Vater.»
«Könnte man so sagen.»
Frannie legt die Stirn in Falten und versucht offenbar, sich einen Reim darauf zu machen. Dann knallt sie die Tür ihres Schließfachs zu. «Was hast du in der nächsten Stunde?»
Ich ziehe meinen Stundenplan hervor. «Mathematik. Zimmer Nummer 317.»
«Das bedeutet Mrs. Felch. Mein Beileid.»
«Warum? Was ist denn mit ihr?»
Die Klingel ertönt. Frannie zuckt zusammen. «Sie lässt die Leute nachsitzen, die beim Klingeln noch nicht auf ihren Plätzen sitzen. Tja, Pech gehabt. Außerdem beißt sie.»
«Das werden wir ja noch sehen.» Ich trete die Tür meines Faches zu und mache mich auf den Weg zu Gebäude Nummer drei. Frannies Augen brennen mir Löcher in den Rücken, und ich grinse vor mich hin. Für den Anfang war das gar nicht mal so schlecht.
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Kapitel 2 Ein teuflischer Plan
Frannie
Im Physikunterricht bin ich heute zu nichts zu gebrauchen. Glücklicherweise ist Carter, mein Laborpartner,
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