Angelglass (German Edition)
und hat das Tor offen gelassen.«
Er sieht mich feindselig an, so als hätte die Tatsache, dass Karla mich im Letná Park aufgelesen hat, dazu geführt, dass sie alle Gedanken an Sicherheit sausen lässt. Er stürmt ins Haus zurück, um ihr jetzt zweifellos einen Vortrag zu halten. Petey lässt sich auf eine verzierte, rostige Bank vor dem Wohnzimmerfenster sinken, fischt eine selbst gedrehte Zigarette aus der Tasche seines karierten Hemds und entzündet sie an der tanzenden Flamme eines glänzenden Metallfeuerzeugs. Padraig zieht einen Schlüsselbund aus der Jeanstasche und geht wortlos zum Tor, um es abzuschließen. Unbeholfen stehe ich zwischen den Rosenbüschen herum. Während ich darauf warte, dass Padraig zurückkommt und wieder mit mir ins Haus geht, sehe ich etwas in der kleinen Abflussrinne liegen, die am Gartenweg entlangführt. Verwundert gehe ich in die Hocke, hebe es auf und drehe es herum. Ein kleiner Stapel Prager Ansichtskarten, fein säuberlich in Plastikfolie eingeschweißt. Plötzlich steht Padraig vor mir und grinst mich an. »Warst du auf Souvenirjagd?«
»Äh, nein«, sage ich und stecke die Postkarten in die Tasche meiner Shorts. »Sollten wir uns nicht um Jenny kümmern?«
»Klar. Na, komm. Es gibt nichts, was nach einem Gläschen Guinness nicht gleich viel besser aussieht. Ganz bestimmt.« Hinter Petey, der mit seiner eigenen kleinen Welt beschäftigt ist, folge ich Padraig ins Haus, spüre dabei jedoch genau, dass sich hinter der Heiterkeit des Iren eine Anspannung verbirgt, die ich noch nicht durchschauen kann.
Als wir zurück im Wohnzimmer sind, hat sich Jenny einen Bademantel angezogen und sitzt neben Cody auf dem Sofa, während Karla mit einem großen Tablett, auf dem sechs Teebecher stehen, aus der Küche kommt. »Stark und süß, genau das Richtige bei einem Schock«, sagt sie und reicht Jenny einen Becher. Padraig fuchtelt mit seiner Bierdose herum und hält sie Karla vor die Nase. »Das hier ist die einzige Antwort auf Schocks«, korrigiert er sie.
»Können wir jetzt bitte mal erfahren, was überhaupt passiert ist?«, sagt Cody.
Jenny nimmt einen Schluck vom heißen Tee. »Das Ganze kommt mir jetzt ziemlich dumm vor. Ich saß gerade in der Wanne, als ich draußen eine Bewegung wahrgenommen habe. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, die Läden zu schließen, seitdem ihr Jungs euch das Glotzen abgewöhnt habt.« Petey kichert in sich hinein.
»Na, wie auch immer«, fährt Jenny fort. »Ich dachte erst, es wäre eine Katze oder irgendwas, aber dann war da plötzlich dieses Gesicht am Fenster und starrte mich an. Ich hab die Massagehandschuhe nach ihm geworfen, aber er wollte sich nicht verziehen. Tja, und dann hab ich einfach geschrien. Tut mir leid, Jungs.«
»Wie hat er ausgesehen?«, will Karla wissen.
Jenny zuckt mit den Schultern und trinkt noch etwas Tee. »Er sah irgendwie alt aus, mit einem ziemlich verschrumpelten und faltigen Gesicht. Mehr hab ich nicht gesehen. Das Fenster war beschlagen, und als ich geschrien habe, ist er weggelaufen.«
»Sollten wir vielleicht die Polizei rufen?«, fragt Karla, ohne jemand Bestimmten anzusehen. Padraig runzelt die Stirn und Petey schüttelt den Kopf. Cody weicht ihrem Blick aus. Schließlich sagt Jenny: »Ich glaube, das ist ’ne einmalige Geschichte. Irgendein Kerl ist über die Mauer geklettert oder so was.«
Jetzt kann Cody seine Karten ausspielen. »Du hast das Tor offen gelassen, Karla«, beschuldigt er sie, sieht dabei Jenny an und ist offensichtlich bemüht, sie auf seine Seite zu ziehen. Jenny tut Karlas Entschuldigung und Codys keineswegs subtile Schuldzuweisung mit einer Handbewegung ab und richtet ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf mich. »Und wen haben wir denn hier überhaupt?«
Cody murmelt etwas Unverständliches. Karla blickt ihn an. »Das hier ist unser geheimnisvoller Mann, Jenny. Ich hätte gerne, dass du ihn dir mal ansiehst, wenn das in Ordnung ist.«
»Natürlich«, erwidert Jenny, beugt sich ein Stückchen vor und sieht mich genauer an. »Wo liegt das Problem?«
»Ich hab ihn heute Morgen im Letná Park gefunden«, sagt Karla. »Nackt, in einem Graben. Kann sich an nichts erinnern. Weiß nicht mal mehr seinen Namen. Ich wollte ihn ins Krankenhaus bringen, aber dann dachte ich, dass du ihn vielleicht untersuchen könntest.«
Jenny wirft Karla einen langen, neugierigen Blick zu und zieht eine Augenbraue hoch. Ihre Augen werden lebhaft, als sie tonlos mit den Lippen »nackt?« wiederholt. Dann sagt
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