Angelglass (German Edition)
Kapitel 1 Das Prager Haus
Alles in allem – so glaube ich – gibt es mehr Dinge, von denen ich Kenntnis habe, als solche, von denen ich nichts weiß.
Ich weiß, dass ich auf feuchtem Gras liege. Ich weiß, dass der Himmel blau ist und die Sonne, vom späten Herbst in ihrer Kraft gemindert, aus kalter Entfernung auf mich herunterbrennt. Dass der Baum, der seine dürren Schatten auf meinen Körper wirft und dessen verkalkte Äste wie die Finger eines von der Menschheit längst vergessenen Wesens am Himmel kratzen, gestorben ist. Dass die orangefarbenen Dächer, die sich am Rande meines Blickfelds zusammendrängen, lebendige Menschen beherbergen, und dass die Türme und Säle, die sich über dem Labyrinth der Straßen an den Berg schmiegen, das Schloss bilden.
Ich weiß, dass ich in Prag bin.
Ich weiß, dass ich nackt bin.
Ich weiß, dass ich aus weißem Licht und einem Flüstern geboren wurde.
Was ich nicht weiß, ist mein Name oder wie ich hierhergekommen bin.
Mein Herz pocht so laut, dass ich es deutlich hören kann, was mich glauben lässt, dass ich am Leben bin. Aber nein, es ist nicht mein Herz. Es ist das rhythmische Geräusch sich nähernder Pferdehufe. Ich schütze meine Augen vor der Sonne und blicke mit zusammengekniffenen Augen auf den Reiter, der in gedämpftem Tonfall seine aufgescheuchte Stute zu beruhigen versucht. Nachdem er sein Pferd besänftigt hat, spricht er mich mit besorgter Stimme an: »Hey, alles in Ordnung? Ist es nicht ein wenig zu kalt für ein Bad in der Sonne?«
Während ich langsam erwache, überkommt mich das Gefühl, dass meine Nacktheit weder richtig noch angemessen ist. Schnell bedecke ich mich mit den Händen. Die Sonne wird für einen kurzen Augenblick von einer baumwollweißen Wolke verdeckt, und der Reiter, der aus dem blendenden, grellen Licht hervortritt, entpuppt sich als Frau von einzigartiger Schönheit. Gekonnt lässt sie sich von ihrem Pferd herunter und hockt sich neben mich in den kleinen Graben. Sie ignoriert meine Nacktheit und richtet ihre erstaunlich grünen Augen aufmerksam auf mein Gesicht. Dann streicht sie sich ein paar kastanienbraune Strähnen aus dem Gesicht und fuchtelt zögernd mit der Hand direkt vor meinen Augen herum, als wolle sie überprüfen, ob ich blind bin. Oder vielleicht verrückt.
»Ähm, mal sehen …
Jak se mate?
«, fragt sie. »Wie geht es dir? Bist du okay?«
Sie redet Englisch, dann Tschechisch, dann wieder Englisch. Für mich klingt alles gleich. Ich weiß nicht, wo der Unterschied ist, und es ist mir auch egal. Sie scheint Englisch zu bevorzugen, und so antworte ich ihr.
»Es geht mir gut. Danke«, sage ich, und immer deutlicher wird mir bewusst, wie unpassend meine Nacktheit ist.
Auch ihr fällt es auf, anscheinend zum ersten Mal. »Warte mal ’ne Minute«, sagt sie.
Sie geht zu ihrem Pferd und zieht ein Paar Shorts und ein ordentlich gefaltetes T-Shirt aus der Satteltasche. Sie reicht mir beides. »Ich hab immer ein paar Extrasachen dabei. Es sind meine, aber sie dürften dir passen. Zieh sie über, und dann sehen wir mal, was wir für dich tun können.«
Während ich mit den Shorts kämpfe, streichelt sie ihr Pferd und flüstert ihm etwas ins Ohr. Dann ziehe ich das T-Shirt an und werfe ihr dabei verstohlene Blicke zu. Sie wirkt blass und typisch englisch, ihre üppigen Locken sehen in diesem Licht fast rot aus. Sie trägt eine Reithose und ein eng sitzendes Hemd.
Hemd. Reithose. Locken. Englisch. Ich sehe etwas und weiß den Namen. Die Wörter formen sich unaufgefordert in meinem Innern. Pferd. Shorts. Satteltasche.
Ich betrachte das Mädchen. Noch mehr Wörter kommen.
Schön.
Das Einzige, wofür ich weder Namen noch Bezeichnung habe, bin ich selbst.
»Also, was ist denn mit dir passiert?«, fragt sie und dreht sich wieder zu mir, als ich angezogen bin. »Bist du gestürzt? Hat man dich überfallen?«
Ich zucke mit den Schultern, fühle mich in ihren Klamotten unwohl. »Ich, äh, ich weiß nicht genau. Ich kann mich an nichts erinnern …«
Mit ihren überwältigend grünen Augen blickt sie mich unverwandt an. »Gar nichts? Ich denke, wir sollten dich zu einem Arzt bringen. Komm, setz dich hinter mich auf Rose. Ich bring dich zum Krankenhaus … Ähm … ich vermute, du hast kein Geld bei dir?«
Hilflos zucke ich wieder mit den Schultern. Sie sagt: »Wir brauchen tausend Kronen, um durch die Tür des Gesundheitszentrums für Ausländer zu kommen … So viel habe ich nicht bei mir.«
Sie zögert eine Minute,
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