Angelika Mann - Was treibt mich nur?: Autobiografie (German Edition)
die Gipsstraße. Das Fahrgeld, welches wir für die Straßenbahn bekommen hatten, behielten wir jedoch für uns und liefen lieber. Wenn die Ersparnisse endlich ausreichten, setzten wir unser „Vermögen“ bei Konnopke um, der wohl berühmtesten Currywurst-Bude in Berlin. Noch immer erinnere ich mich an diesen herrlichen Geschmack und mache da auch heute noch ab und zu Halt.
Auf dem Rückweg, den wir dann natürlich ebenfalls zu Fuß bewältigen mussten, liefen wir durch eine kleine Parkanlage mit einem Teich. Eines Tages, mitten im Winter, kamen meine Freundinnen auf die Idee, ein bisschen auf dem Teich herumzuschlittern. Er schien zugefroren zu sein, trotzdem bat ich sie inständig, das nicht zu tun. Natürlich sind sie eingebrochen, konnten sich gerade noch retten und waren nun beide patschnass. Wir kamen viel zu spät nach Hause, die beiden Mädchen zitterten vor Kälte – und ich bekam die Standpauke. Die wurden in die heiße Wanne gesteckt, bekamen dampfenden Tee und ich musste zur Strafe mal wieder auf die Schuhkiste.
Wenn man so etwas erlebt, meldet sich der Gerechtigkeitssinn. Gleichzeitig lernt man eben auch, sich in einer Gemeinschaft zu arrangieren und zu begreifen, dass auch alle anderen Menschen Wünsche und Bedürfnisse haben. Ich bin bis heute der Meinung, dass ich in diesen Jahren viel fürs Leben gelernt habe. Und ich habe auch eine Freundin fürs Leben gefunden: Eines Tages, ich war gerade sieben Jahre alt, kam eine Neue zu uns. Wirbeäugten uns misstrauisch. Myriams Papa war Professor und meiner Arzt. Das war im Kinderheim etwas besonderes. Wir haben uns schnell angefreundet und haben bis heute noch guten Kontakt. Myriam wollte Schauspielerin werden, ich Schlagersängerin. Das stand für uns schon damals unumstößlich fest. Sie hat dann tatsächlich in New York an der berühmten Straßberg-Schule studiert.
Kultur wurde großgeschrieben im Kinderheim. Ich hatte Klavierunterricht und war im Flötenkreis der Musikschule Gipsstraße in Berlin-Mitte. Das DDR-Fernsehen war Mitte der fünfziger Jahre nicht ganz so alt wie wir, aber man hat uns „Flötenkinder“ tatsächlich gefilmt. Wahrscheinlich habe ich mich schon damals beim Anblick einer Kamera auffällig benommen, jedenfalls meinte der Regisseur, dass ich später mal beim Film landen werde. Welche Weitsicht! Wenn für eine Feier im Heim ein kleines Theaterstück inszeniert wurde, war ich auch mit ganzem Herzen bei der Sache.
Auch zum Ballettunterricht bin ich gegangen. Allerdings nicht sehr lange. Ich vergaß immer, dass man als Primaballerina gefälligst zuerst mit den Zehen losgeht und stampfte unelegant durch die Gegend. Auf tänzerischem Gebiet hielt sich mein Talent in Grenzen.
Schon damals wollte ich in erster Linie singen. In der Schule hatte sich das herumgesprochen und so stand ich mit elf Jahren oft vor meiner Klasse im Musikunterricht und sang Schlager wie „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“ von Connie Francis. Allerdings sollten wir dort ganz andere Lieder singen. Es gab zwar die Mauer noch nicht, aber es gab den Kalten Krieg. „Ami, go home“ hätte man von mir viel lieber gehört. Aber ich – mit einer Grenzgängerin als Mutter und als katholisches Heimkind – weigerte mich standhaft, bei dieser Hetze mitzumachen. Ich musste nicht, ich war ja nicht mal bei den Pionieren. Das war für mich unvorstellbar. Ich war streng katholisch, hatte die Heilige Kommunion erhalten und die Firmung. Alles, was mit diesem Staat zu tun hatte, interessierte mich nicht.
Erstkommunion, 1958
Die Stimmung in der „Frontstadt“ Berlin war nicht gut. Das spürte ich auch als Kind. Meine Mutter hatte den Plan, mit uns nach Westberlin zu ziehen. Sie wollte „abhauen“ und hatte schon alles vorbereitet. Dabei musste man natürlich unheimlich vorsichtig vorgehen. Ich habeoft erlebt, wie Leute auf dem Bahnhof Schönhauser Allee aus der S-Bahn geholt und abtransportiert wurden. Wahrscheinlich wollten auch sie „rüber machen“ und sind verpfiffen worden. Gern hat die Transportpolizei, die zu den bewaffneten Organen gehörte, den Ostberlinern auf den Bahnhöfen auch die Waren abgenommen, die sie im Westen für ihr teuer umgetauschtes Geld erstanden haben.
Aus dem Umzug nach Westberlin wurde nichts. Unsere Geschichte sollte sich ganz anders fortsetzen. Ich war am 13. August 1961 zu Hause in Berlin-Buch bei meiner Mama, mein Bruder noch in den Ferien an der Ostsee. Nach seiner Rückkehr sollte es losgehen mit unserer Republikflucht. Morgens,
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