Angezogen - das Geheimnis der Mode
hinter dem Ohr gezüchtet, um später für zur Vervollkommnung von Gesicht und Figur eingesetzt zu werden. Zwischen dieser Entstaltung und der Neugestaltung spielt die Mode des Maison Martin Margiela. Oft gelingt das Unglaubliche: noch das Ungestalte in einer neuen Eleganz zu fassen. Durch trompe l’œil-Effekte wird die Illusion eines hybriden Körpers erzeugt. Margiela inszeniert in seinen Kleidern die Zurichtung des Menschen in der Moderne, die mit zweischneidigen Mitteln ins Licht gerückt wird.
Grundsätzlich verändert sich damit das Verhältnis von Stoff und Haut. Roland Barthes hat die Mode als Spiel zwischen Stoff und Haut beschrieben. Erotisiert wird der Körper durch das Auseinanderklaffen des Stoffes, im Aufleuchten des nackten Fleisches: »die Unterbrechung ist erotisch (…): die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt«. 129 Von solchen referentiellen Naivitäten war die Mode des Hauses Martin Margiela schon immer frei. Sein Nacktes, nackter vielleicht als alles bisher dagewesene Nackte, hatte von vornherein nichts mit tatsächlicher Haut und der Anziehung des wirklichen Fleisches, sondern mit trompe l’œil zu tun. Der Witz dieser Kleider liegt jedoch nicht darin, dass man auf den ersten Blick den Eindruck hat, dort Nacktes zu sehen, während man in Wirklichkeit einen hautfarbenen Stoff sieht. Er liegt darin, dass dieser hautoder fleischfarbene Stoff, der die Illusion des Nackten produziert, nicht anziehend ist.
Die zweite Haut, die Eintauschbarkeit von Stoff für Haut ist ein Thema, das die Mode obsessiv beschäftigt. Endlos sind die Beschreibungen, die Zola oder Balzac der Textur des weiblichen Fleisches widmen, das nicht mineralisiert und versteinert,nicht dem Marmor, dem Elfenbein, Edelsteinen oder dem Porzellan gleicht, sondern Samt und Seide. Das rosige Inkarnat der Blonden zeigt durchsichtig das in ihm pulsierende Blut unter einer Haut, so zart wie ein Crêpe de Chine; die matte, ins Oliv gehende Haut der Brünetten schimmert wie Seidensatin. Die Leidenschaft, die Frauen und Männer sich in Zolas Paradies der Damen hingebungsvoll verausgaben lässt, ist diese Leidenschaft für Stoffe, in denen sich die Schönheit des Fleisches, das von ihnen umhüllt wird, andeutet: seidenweiche Schenkel, samtige Wangen. Dass diese Faszination für schmeichelnde Stoffe auch der heutigen Mode nicht fremd ist, mag der Seidensatinstretch von Dolce & Gabbana veranschaulichen, der den Körper wie eine Pfirsichhaut umfasst und liebkost.
Das Maison Martin Margiela hingegen trägt der Anziehung des Nackten von vornherein etwas Abstoßendes ein. Die tiefe Ambivalenz diesem für die Mode konstitutiven Element gegenüber, das die Frau reizvoll macht, verstärkt sich in den neuen Kollektionen. Die Nacktheit des Fleisches wird in seltener Aggressivität als trompe l’œil aufgerufen, um als erotischer Reiz sofort durchkreuzt zu werden. Ähnliches gab es im Ansatz auch in früheren Kollektionen. Nude- und Pudertöne haben bei Margiela, schon bevor sie wieder zum letzten Schrei wurden, eine große Rolle gespielt.
Der erotische Schock wurde dabei nicht durch immer mehr Enthüllung bisher verhüllter Körperteile hervorgerufen; dafür gibt es nach Stand der heutigen Mode, in der der Spalt zwischen den Pobacken das neue Dekolleté ist, nicht mehr wirklich Spielraum. Margiela schaffte den Schock des neuen Nackten, nackter als nackt, durch ein radikales Durchbrechen des mit den Kleidern verknüpften Erwartungshorizonts.
Niemand erwartet bei dem braven, als todlangweilig verschrienen Twinset, üblicherweise aus Kaschmir oder Seidenwollgemisch, dass die Trägerin unter der Jacke nackt sei. Genau das suggerierte Margielas Twinset. Außen aus feinem, hellgrau meliertem Baumwolljersey, wie man es typisch fürSweatshirts verwendet, war die Jacke mit einem fleischfarbenen Nylon gefüttert – schon das ein Schlag ins Gesicht. Der Pullover, auf den sich die Jacke öffnete, war ebenfalls aus diesem Nylon. Radikal wurde das Twinset für den ersten Augenblick erotisiert: Die Jacke öffnete sich auf einen Körper, der nackt wirkte. Zum Streicheln, Anfassen, Berühren lud diese Nacktheit nur auf den ersten Blick ein. Zu stark wurde man beim zweiten Blick an die billigen und ach so praktischen, weil bügelfreien Nylonhemden aus den Sechzigerjahren erinnert. Was immer ihre Vorzüge gewesen sein mögen: Zum schmeichelnden Streicheln reizten sie jedenfalls nicht. Der erotische Schock wurde also konterkariert durch ein Fleisch,
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