Angst (German Edition)
sei. Ein paar Zuschauer zischten, als sie das hörten. Der Gerichtssaal war nahezu voll, die Presse hatte ausführlich berichtet, zum großen Teil mit Verständnis. Das größte Wohlwollen zeigten, leider, muss ich sagen, jene Zeitungen, die ich normalerweise nicht lese, die Boulevardblätter, die mir in dieser Sache aber zu Verbündeten wurden, weil die Selbstjustiz einer bedrohten Familie in ihr Weltbild passte. Ich las sie deshalb mit neuer Sympathie. Heute würde ich das ein weiteres Element meines Lebens in der Barbarei nennen, neben der Sprache und der Gedankenwelt, in die uns Herr Tiberius gestürzt hat. Und die Tat ist natürlich auch barbarisch.
Mein Vater hat zu Beginn des Prozesses ein Geständnis abgelegt. Im Gegensatz zu mir kann er gut reden. Er hat seine Angst um seine Enkelkinder, seinen Sohn und seine Schwiegertochter eindringlich beschrieben, wie unerträglich ihm der Gedanke war, seinen Lieben könnte durch «diesen Menschen im Keller» etwas zustoßen. Zornig hat er von «der Ohnmacht des Staates» gesprochen, eines Staates, der nicht in der Lage gewesen sei, einer Familie, die sich nichts zuschulden hat kommen lassen, zu helfen. Wenn ich das richtig gesehen habe, zeigten die Richterin und der Staatsanwalt an dieser Stelle betretene Mienen. Ich bin schuldig, sagte mein Vater am Ende seiner Rede, ich habe einen Menschen getötet, weil ich mir und meiner Familie nicht anders zu helfen wusste, dafür muss ich bestraft werden, und ich werde diese Strafe mit Demut tragen. Er zeigte Haltung, mein Papa, ich bewunderte ihn dafür. Zum Hergang der Tat sagte er nichts.
Kaum hatte er seine Aussage beendet, öffnete sich die Tür des Gerichtssaals, und ein Mann mit Kapuzenpullover kam herein. Er hatte sich die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass ich eine Weile brauchte, bis ich meinen kleinen Bruder erkannte. Ich winkte ihm zu, er solle sich neben mich setzen, aber er suchte sich einen Platz am Rand. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er nach Qingdao abgereist war, auf meine Mails kamen keine Antworten. Ich freute mich, dass er da war, wunderte mich jedoch über seine abweisenden Blicke.
An diesem Morgen sagte zuerst Rebecca als Zeugin aus und schilderte ihre Ängste um die Kinder und sich selbst, schilderte die Verletzungen, die sie durch die Briefe und Gedichte erlitten hatte. Sie machte das sehr gut, wirkte souverän, aber nicht kühl, sondern bewegt von den schrecklichen Erinnerungen, ohne sich in Leidenspathos zu ergehen. Unser Anwalt bestand darauf, alle Texte von Herrn Tiberius zu verlesen. Während er las, spürte ich das Entsetzen im Saal. Nach Rebecca kam ich an die Reihe, erzählte ebenfalls von unseren Ängsten und berichtete ausführlich von meinen Bemühungen, das Problem auf legalem Weg zu lösen. Meinen ganzen Auftritt gestaltete ich rund um das Wort «schutzlos». Wir waren Schutzlose gewesen, wir hatten an unserer Schutzlosigkeit gelitten. Der Staat, dem wir vertrauten, dem wir regelmäßig Steuern zahlten, dem wir durch Stimmabgabe bei allen Wahlen unser Interesse bekundeten, hatte uns schutzlos gelassen. Ich war nicht ganz so souverän wie Rebecca, meine Stimme zitterte manchmal, aber ich schlug mich nicht schlecht. Manchmal sah ich zu meinem kleinen Bruder, konnte jedoch keinen Blick auffangen, da er seinen Kopf in die Hände gestützt hatte und auf den Boden starrte. Der Staatsanwalt quälte mich eine Weile mit Fragen, warum wir nicht einfach weggezogen seien. Würden Sie Ihr Heim aufgeben, weil jemand, der komplett im Unrecht ist, Sie bedroht, hielt ich ihm entgegen. Ich würde das Problem jedenfalls nicht mit einem Mord lösen, sagte der Staatsanwalt. Daraufhin griff unser Anwalt ein: Wollen Sie dem Zeugen unterstellen, er habe einen Mord begangen? Er wolle niemandem etwas unterstellen, giftete der Staatsanwalt. Die Vorsitzende Richterin mahnte einen sachlichen Ton an und fragte den Staatsanwalt, ob er noch weitere Fragen an den Zeugen habe. Keine weiteren Fragen, sagte der Staatsanwalt.
In der Pause ging ich gleich zu meinem Bruder, wollte ihn fest und innig umarmen, wie es üblich war zwischen uns, spürte aber Widerstand, einen steifen Körper, der sich nicht mit meinem verklammern wollte. Ich löste mich enttäuscht, da Rebecca schon wartete, und sah, wie sich die beiden lange und herzlich in den Armen hielten. Warum er die Kapuze aufhabe, wollte Rebecca wissen, und mein kleiner Bruder sagte, dass hier im Moabiter Kriminalgericht ständig Prozesse gegen Leute von
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