Angst (German Edition)
mit Ihnen. Er schwieg eine Weile, sagte dann: Als Sie bei mir an der Tür waren, haben Sie doch gesagt, dass ich Hilfe brauche, weil ich krank bin, aber ich bin nicht sicher, ob das sein kann. Ich bin sicher, sagte ich, dass Sie krank sind und Hilfe brauchen. Glauben Sie, hörte ich, dass kein Detail von dem richtig ist? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Nein, nicht das geringste Detail. Er schwieg wieder. Lassen Sie sich helfen, sagte ich, nun mit milder Stimme. Ich bin manchmal nicht sicher, sagte er, vielleicht bin ich wirklich krank, ich würde gerne einmal zum Arzt gehen, habe aber immer Angst. Ich versprach ihm, mich um einen Arzt für ihn zu kümmern, dann legten wir auf.
Ich fragte meinen Hausarzt, ob er einen Kollegen mit psychotherapeutischer Ausbildung kenne, er empfahl mir jemanden, und bald hatte ich dessen Zusage, dass er Herrn Tiberius besuchen würde. Tatsächlich kam ein Termin zustande, ich sah den Arzt vorfahren, aussteigen und bei Herrn Tiberius klingeln. Nichts rührte sich. Ich hörte den Arzt mehrmals klingeln, bis ich ihm schließlich selbst die Gartenpforte und die Haustür öffnete. Wir gingen zusammen ins Souterrain, klingelten, klopften, riefen, ohne Erfolg. Ich bedankte und entschuldigte mich bei dem Arzt, der wieder davonfuhr, und mit ihm meine letzte Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Am nächsten Tag lag wieder ein Gedicht auf dem Sims.
Was dann geschehen ist, habe ich anfangs geschildert, so ungefähr jedenfalls. Unser Gartentor hat immer gequietscht, selbst Ölen half nicht, und so hat es auch gequietscht, als der Sarg mit Herrn Tiberius zum Leichenwagen getragen wurde. Ich stand am Fenster und sah zu, ohne Triumph, aber erleichtert. Mein Vater war da schon weggebracht worden. Ich rief Rebecca an, dann meine Mutter. Beide zeigten sich nicht überrascht. Über die Tat oder die Vorgeschichte der Tat sprachen wir nicht, unsere Gedanken richteten sich ganz auf Papa, wie wir ihm helfen, wie wir ihm sein Leben in der Untersuchungshaft erleichtern könnten. Bei den Ermittlungen hat der Kommissar kurz die Idee verfolgt, das Ganze könne ein Komplott unserer Familie sein, eine Verabredung zum Mord, aber wir haben ihm versichert, dass nie ein Wort in dieser Sache gefallen ist, und das war nicht gelogen. Tatsächlich hatte ich mit meinem Vater nie über Herrn Tiberius geredet, wir sprachen in dieser Zeit nur einmal miteinander, an seinem Geburtstag, und da wurde nicht viel mehr gesagt als herzlichen Glückwunsch und vielen Dank und wie geht’s und ganz gut und selbst und auch und alles Gute und dir auch. Wie das so war zwischen meinem Vater und mir. Auch meiner Mutter habe ich mit keiner Silbe angedeutet, dass sie mit Vater sprechen soll. Rebecca war in meinen Plan nicht eingeweiht, wenn man es denn überhaupt einen Plan nennen kann. Wir haben auf eine andere Weise miteinander kommuniziert, auf eine stille Weise, nach Art unserer Familie. Jeder hat die Signale verstanden, und stilles Einvernehmen ist nicht strafbar, es ist ohnehin nicht nachzuweisen. Den Ausschlag hat gegeben, dass mein Vater alle Schuld auf sich genommen und ein Komplott bestritten hat. Der Kommissar folgte diesem Verdacht nicht weiter, ob er uns geglaubt hat, weiß ich nicht. Ihm war sicherlich klar, dass er Beweise nicht finden würde.
Im März des folgenden Jahres begann der Prozess. Ich war nervös, wir wussten, dass die Staatsanwaltschaft einen Mord anklagen würde, aber unser Anwalt machte uns Hoffnung, dass die Schwurgerichtskammer am Ende zu dem Urteil kommen könne, es habe sich um Totschlag gehandelt. Für Mord gibt es lebenslänglich, und der Täter kann frühestens nach fünfzehn Jahren entlassen werden. Für Totschlag gibt es maximal fünfzehn Jahre, und der Täter kann frühestens nach siebeneinhalb Jahren entlassen werden. Für meinen Vater ging es also um die Frage, ob er noch einmal in Freiheit leben würde oder nicht.
Der Schwurgerichtskammer saß eine Frau vor, Mitte fünfzig, ein rundes, freundliches Gesicht, eine große Frisur, das Volumen des Kopfes ungefähr verdoppelnd, blond. Ich hasse diese Frisuren, wenn sie sich im Theater vor mir auftürmen. Goldener Schmuck, wuchtig, schwer. Der Staatsanwalt, Anfang fünfzig, war hager, fast ausgezehrt, ich schätzte, dass er nach Sydney, New York und Chicago reiste, um sich und der ganzen Welt zu zeigen, dass er einen Marathon unter dreieinhalb Stunden laufen kann. Er klagte meinen Vater des Mordes an, da das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt
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