Angst (German Edition)
P apa? Er hat mir nicht geantwortet, er redet nicht, redet kaum noch. Er ist nicht wirr, nicht dement, wie man jetzt sagt, er hat weder Alzheimer noch eine andere Krankheit, die sein Gedächtnis frisst. Seine Erinnerungen haben ihn nicht verlassen, das wissen wir, weil er manchmal doch redet, selten, aber dann sind seine Sätze klar und vernünftig, sie kommen aus einem Gehirn, das sich noch auskennt in dem Leben, das es gesteuert und gespeichert hat, ein langes Leben, achtundsiebzig ist der Papa. Er hat mich erkannt, als ich ihn heute Nachmittag besucht habe, er erkennt mich immer, wenn ich ihn besuche, ein Lächeln, klein, nicht groß, so ist es eben mit ihm, Distanz, Zurückhaltung, aber er erkennt seinen Sohn, seinen ältesten Sohn, und er freut sich, dass dieser Sohn zu ihm kommt. Das ist nicht wenig.
Herr Tiefenthaler? Herr Kottke hat so gefragt, nachdem mein Versuch ohne Antwort geblieben war. Manchmal reagiert mein Vater eher auf Herrn Kottke als auf mich. Bin ich deshalb eifersüchtig? Ein bisschen, das muss ich zugeben. Andererseits ist Herr Kottke der Mann, mit dem mein Vater nun seine Tage verbringt, und ich bin froh, muss froh sein, dass sie gut miteinander auskommen. Herr Kottke verehrt meinen Vater, das kann ich sicherlich so sagen. Ich weiß nicht, ob er mit allen Männern hier so behutsam und freundlich umgeht wie mit Papa, ich vermute, dass es nicht so ist, habe ihn aber nie mit den anderen Männern gesehen. Heute hat mein Vater nicht auf Herrn Kottke reagiert. Er saß stumm am Tisch, dämmerte vor sich hin. Seine Augen waren halb geschlossen, sein Rücken war gerade, seine Hände hingen an den Seiten herab. Manchmal kippte sein Oberkörper nach vorn, und ich erschrak, denn würde mein Vater mit dem Gesicht auf den Tisch schlagen, würde er sich sehr weh tun, sich womöglich verletzen, die Platte ist aus Metall. Aber mein Vater fällt nie nach vorn, er stoppt die Kippbewegung, sobald sein Oberkörper etwas geneigt ist, und richtet sich wieder auf. So auch heute. Aber ich kann mich nicht daran gewöhnen, erschrecke jedes Mal. Ich sah, wie sich Herr Kottke entspannte, auch er war bereit einzugreifen. Wir passen auf, wir passen gut auf, dass dem Papa nichts geschieht.
Ich besuche meinen Vater seit einem halben Jahr an diesem Ort, und es ist immer noch traurig, ihn so sitzen zu sehen, in seiner ausgeleierten Hose, die er ohne Gürtel trägt, in seinem verschlissenen Hemd. Wir haben ihm neue Sachen gekauft, damit er ordentlich aussieht, aber er besteht auf seiner vertrauten Kleidung, und warum nicht? Es sieht eigentümlich aus, wie er dort sitzt, weil sein Stuhl zu weit vom Tisch entfernt steht, so wie meiner auch, wir sitzen uns gegenüber, aber nicht wirklich an diesem Tisch, der uns daher nicht verbindet, nicht wirklich beisammensitzen lässt. Der Tisch trennt uns, gerade jetzt, da wir uns näher sind denn je. So sehe ich das jedenfalls. Leider ist es nicht möglich, die Stühle zu verrücken, weil sie am Boden festgeschraubt sind, und das gilt auch für den Tisch.
Mein Vater könnte reden, aber er will nicht mehr. Er ist müde, glaube ich, erschöpft von diesem langen Leben, das er schwierig fand. Wir verstanden ihn nicht, doch was zählt das schon? Er musste die Schwierigkeiten bewältigen, auch wenn er sie sich vielleicht nur eingebildet hat. Er führte sein Leben konsequent so, als habe es sie gegeben. Und wir wissen nicht alles von seinem Leben. Niemand weiß alles von anderen Leben. Wir sind nur bei unserem eigenen Leben immer dabei, und selbst das heißt nicht, dass wir alles von unserem Leben wissen, weil Dinge, die uns betreffen, passieren können, ohne dass wir dabei sind. Oft passieren schwerwiegende Dinge, die uns betreffen, ohne unser Wissen. Vielleicht sollten wir uns auf den Satz verständigen, dass niemand alles von irgendeinem Leben weiß, nicht einmal vom eigenen. Wir sollten deshalb vorsichtig sein mit Sätzen, die ganze Leben betreffen. Ich bin es.
Ich habe meiner Frau heute Morgen beim Abschied gesagt, dass ich meinen Vater besuche. Das sage ich immer so, und wenn sie dran ist, verwendet sie die gleiche Formel: Ich besuche nachher deinen Vater. Niemand sagt: Heute gehe ich ins Gefängnis zu Papa. Wir legen keinen Wert auf solche Genauigkeit, sie tut uns weh, immer noch. Ein halbes Jahr reicht nicht, um das Wort Gefängnis schmerzlos aussprechen zu können, nicht in einer Familie, in der nie einer im Gefängnis gesessen hat und die sich erst daran gewöhnen muss, dass ein
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