Angst (German Edition)
ich schnell, der ist richtig dick, sagte Paul, total dick, sagte Fee, der ist auch gar nicht hier, sagte Rebecca, und ich hörte ein Flattern in ihrer Stimme. Wir redeten dann wieder über Tiere, Maulwürfe, Mäuse. Am Abend, als die Kinder im Bett waren, saßen meine Frau und ich auf der Terrasse, tranken Wein und sprachen darüber, ob es richtig war, mit den Kindern so gut wie gar nicht über Herrn Tiberius zu reden. Mein Eindruck war, dass diese Strategie gescheitert ist, da Pauls Satz gezeigt hat, dass sie diese Bedrohung nicht vergessen, dass sie in ihnen wühlt und manchmal herausbricht. Wir hätten doch einen Kinderpsychologen einschalten sollen, sagte ich, dann kämen sie besser klar mit Herrn Tiberius. Sag nicht immer Herr Tiberius, fuhr mich meine Frau an. Wir schwiegen dann lange, ein Vogel rief in der Nacht, auf eine nervige Art, regelmäßig, eindringlich, später hörten wir unsere Nachbarn mit Löffeln gegen Töpfe schlagen, um den Vogel zu vertreiben, aber er ließ sich nicht einschüchtern. Ich war erst wütend auf Rebecca, die offenbar nicht verstand, dass ich mich mit dieser Formulierung gegen die innere Barbarei wehrte, aber dann verlor ich mich in der grauenhaften Vorstellung, meine Kinder könnten in die Fänge von Herrn Tiberius geraten, entführt, eingesperrt, missbraucht. Dazwischen Bilder ihres Glücks, Fee wohlig zwischen ihren Kuscheltieren liegend, Paul auf dem Fußboden mit der Brio-Bahn. In ihrem Kellerloch erinnern sie sich an diese schönen Zeiten. Wir lagen lange wach in jener Nacht, ich hörte Rebecca sich wälzen, hörte den Vogel rufen.
Als wir nach Hause kamen, lag ein Brief mit einem Gedicht auf dem Sims. Ich las es gar nicht mehr richtig, überflog es nur, um zu sehen, auf welche neuen Ideen Herr Tiberius gekommen war, dann trug ich den Brief zu unserem Anwalt, routiniert und hoffnungslos. Es gab noch keinen Verhandlungstermin wegen der Verleumdungsklage, aber das war fast egal. Ich rief meine Mutter an und erzählte ihr von Pauls Satz auf Menorca und unserer aussichtslosen Lage. Was ich da tat, war ein starker Bruch in unserer Beziehung, wie sie in den letzten Jahren gewesen ist. Für meine Mutter bin ich für die Glückserzählungen zuständig. Ihre Tochter ist tot, ihr jüngster Sohn ist ein Mensch, der sie mit seinem Lebensstil erschreckt und von dem sie sich nicht vorstellen kann, dass er glücklich ist, obwohl er das ist. Mein Dasein dagegen entspricht ihren Wünschen an ein gelungenes Leben, eine stabile Familie, Wohlstand, Ansehen. Bist du denn wenigstens glücklich, fragte sie mich manchmal, nachdem sie lange über Cornelias Tod und das unterstellte Unglück in Brunos Leben geklagt hatte, und bis zu jener Zeit gab es für mich nur eine Antwort: Ja, Mama, ich bin glücklich, und dann versorgte ich sie mit Erzählungen vom gelungenen Leben, auch in der Zeit, als meine Ehe kein Modell des Gelingens war. Ich war Glückslieferant, da konnte ich nicht rücksichtslos mit der Wahrheit dienen.
Nun versorgte ich meine Mutter mit Unglücksberichten aus der Tiberius-Welt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich den Plan dazu gefasst hatte, es begann einfach so. Ich begann mit diesen Telefonaten, und erst allmählich wurde mir bewusst, dass ich damit ein Ziel verfolgte. Heute denke ich, dass sich eine Strategie im tiefsten Brunnen meines Unterbewusstseins entwickelt hat, ganz unten bei den Kröten, die im brackigen Wasser unsere verbotenen Gedanken hüten. Manchmal lassen sie diese Gedanken aufsteigen, lassen sie rumoren, bis daraus Taten werden. So war es wohl bei mir. Ich wusste, dass meine Mutter meinem Vater alles erzählen würde, was ich ihr erzählt hatte. Ich wusste, wie sehr das meinem Vater zusetzen würde, weil ich ihn in der Praxis von Cornelias Frauenarzt gesehen hatte. Vielleicht keimte in mir eine Hoffnung, dass er das nicht lange hinnehmen würde, aber einen bewussten Prozess kann ich das nicht nennen.
An einem Vormittag rief mich Herr Tiberius auf meinem Handy an. Er hatte die Nummer aus den besseren Zeiten ganz am Anfang, als er einmal einen Rat von mir wollte, weil irgendwas in seiner Wohnung kaputtgegangen war. Reden Sie noch mit mir, fragte er unvermittelt. Ja, sagte ich, alarmiert, hoffend, vielleicht gab es doch noch eine gute Lösung. Glauben Sie, fragte Herr Tiberius, dass nichts von dem, was ich gesehen und gehört habe, geschehen ist? Meine Antwort war irgendwie idiotisch, geprägt durch eine erste Enttäuschung: Ich rede darüber nur vor Gericht
Weitere Kostenlose Bücher