Angst (German Edition)
einer leichten Verschlossenheit, die neu ist. Vielleicht liegt das an ihren schlimmen Erinnerungen, aber vielleicht liegt es auch an mir. Hält sie mich insgeheim für einen Feigling, so wie mein Bruder oder die Insassen der Justizvollzugsanstalt?
Alles in allem würde ich trotzdem behaupten, dass diese Krise das Beste aus meiner Familie herausgeholt hat. Wir haben uns bewährt, wir waren bedroht, haben zusammengehalten, haben uns der Geschichte meiner Familie gemäß verhalten, wehrhaft gezeigt und den Sieg davongetragen, wobei mir das Wort Sieg nicht gefällt. Wir haben mit vereinten Kräften unsere Sicherheit wiederhergestellt. Kann man etwas Besseres über eine Familie sagen? Ich denke nein.
Und ich habe einen Vater. Das lasse ich einmal so stehen, ohne Bemerkungen dazu.
Für meine Mutter haben wir gesorgt. Ich habe ihr eine kleine Wohnung in unserer Nähe gemietet, sehr hübsch, mit Blick in einen Garten. Der Hausbesitzer hat nichts dagegen, dass sich meine Mutter in diesem Garten nützlich macht, sie liebt das, schneidet Rosen oder gießt die Tomaten. Fast jeden Tag kommt sie zu uns und spielt mit den Kindern oder liest ihnen vor. Natürlich vermisst sie ihren Mann, aber ganz schlecht ist ihr neues Leben nicht, zumal ich sie selbstverständlich wieder mit Geschichten vom Gelingen meines Lebens versorge. Mit meinem Bruder habe ich mich versöhnt. Manchmal wackelt meine Stimme, wenn ich Reden halten muss, aber das ist nicht weiter schlimm.
Ich stelle mir oft die Frage, ob es richtig war, das Leben von Herrn Tiberius zu beenden. Ich bin da nicht leichtfertig, mich quälen diese Gedanken. Er hat uns nie attackiert, und wahrscheinlich hätten wir ewig so mit ihm leben können, bis er eines Tages genug gehabt hätte von den Zornesausbrüchen meiner Frau. Aber hätte er je genug gehabt? Und was für ein Leben wäre das gewesen? Unsere Ängste wären geblieben, weil wir nie erfahren hätten, welches Spiel Herr Tiberius mit meiner Frau trieb. Am Ende solcher Grübeleien sage ich mir nie, es war richtig, oder es war falsch. Dieser Tod lastet auf meinem Gewissen, aber es war unvorstellbar für mich, mit Herrn Tiberius weiter unter einem Dach zu leben. Am meisten macht mir zu schaffen, dass er uns nur mit Worten attackierte, nie mit Taten, dass er unser Lebensgefühl verletzte, nicht unsere Körper, dass er sich für den Angriff auf meine Familie einer verfeinerten Kulturtechnik bediente, des Gedichts, wenn auch in erbärmlicher Form. Die Barbaren waren am Ende wir, auch wenn das Erschießen von allen Tötungsarten die zivilisierteste ist. Ich würde aber nicht so weit gehen, das Schießen mit Handfeuerwaffen eine Kulturtechnik zu nennen, auch wenn manche Kulturwissenschaftler das vielleicht so sehen wollen. Bei meinem Vater habe ich das nicht mit diesem Anspruch gelernt, damals auf dem Schießplatz am Wannsee.
Ich fasle herum. Ich sollte nicht faseln. Ich sollte endlich aufschreiben, was zu sagen ist. Ich habe eben noch einen Black Print geöffnet, habe einen großen Schluck genommen, blaue Zähne, ich habe jetzt blaue Zähne, das weiß ich, ohne in den Spiegel schauen zu müssen. Mein Blick wandert hinaus zur Gaslaterne, als suche ich dort Trost und Kraft für das, was kommt. Wenn ich die Laterne anschaue, denke ich beinahe jedes Mal an ein Gedicht von Alexander Blok.
Nacht, Weg, Laterne, Apotheke,
Das Licht ist sinnlos trüb und bleich.
Geh weiter auf der Lebensstrecke –
Kein Ausweg. Alles bleibt sich gleich.
Du stirbst – beginnst ein neues Mal.
Und wieder, eh du dir’s gedacht:
Weg, kaltes Kräuseln im Kanal,
Laterne, Apotheke, Nacht.
Ist es nicht so? Erst habe ich Angst, dass mein Vater zu mir hinaufsteigt und mich heimsucht, dann habe ich Angst, dass Herr Tiberius zu uns hinaufsteigt und uns heimsucht. Mein Leben beginnt mit Waffen, dann tue ich alles, um mich von den Waffen zu entfernen, kehre aber zu den Waffen zurück, und ein Mensch wird erschossen.
Hör auf! Hör auf und sag endlich die Wahrheit.
Die Wahrheit: Am Morgen des dritten Tages saß mein Vater in unserer Küche, und eine Pistole lag auf unserem Tisch, eine Walther PPK. Ich setzte mich zu meinem Vater, und zunächst taten wir so, als läge da gar keine Pistole zwischen uns. Wir tranken Kaffee und schwiegen. Nach einer Weile schob mein Vater die Walther PPK zu mir, die Walther Polizeipistole Kriminal, sie lag dann neben meiner Espressotasse. Ich sah meinen Vater an, er nickte mir zu. Ich habe nicht lange überlegt, sondern habe
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