Anidas Prophezeiung
fragte Ida gespannt weiter. Dorkas antwortete nicht, und Ida begann sich auszumalen, wie die Gildenfrau in der dunkelsten Ecke einer verkommenen Spelunke den Kopf mit einem lichtscheuen Subjekt zusammensteckte, das ihr eine wichtige Nachricht für das Gildenhaus verkaufen wollte, die ihm auf geheimnisvollen Wegen in die schmierigen Hände gefallen war. Die Realität nach diesen ausufernden Phantasien entpuppte sich dann als erwartungsgemäß enttäuschend.
Das Gasthaus »Zur Silberweide« war ein schmuckes, zweigeschossiges Gebäude mit tiefgezogenem Strohdach und einem blitzsauber gefegten Hof. Vor der grün gestrichenen Tür stand die Namen gebende Weide, und ein rankender Rosenbusch mit betäubend duftenden Blüten hieß die Reisenden willkommen.
Dorkas, die sich anscheinend hier sehr daheim fühlte, brachte die Pferde zum Stall hinüber und überließ sie dort der Obhut eines mürrisch dreinblickenden Stallburschen. Sie erteilte dem Knaben einige Anweisungen, die er stumm entgegennahm, und schob dann Ida auf die Tür des Schankraumes zu.
»Dorkas«, rief die rundliche Frau hinter der Theke. »Wie schön, dass du dich endlich wieder einmal sehen lässt! Ich dachte schon, du hättest mich vollkommen vergessen.« Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab und reichte sie der Gildenfrau zu einer herzlichen Begrüßung. Dorkas hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und schob Ida vor.
»Das ist Anida, ich bringe sie zum Mutterhaus.« Ida ergriff die Hand der kleinen Frau und ließ ihre eingehende Musterung geduldig über sich ergehen. Die hellblauen Augen der Wirtin blitzten vergnügt auf.
»Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Anida. Ich bin Matelda. Dorkas und ich sind alte Freundinnen.« Sie wandte sich lebhaft zu Dorkas um und nahm sie beim Ellbogen. »Ihr seid sicher hungrig und müde, wie ich dich und dein Reisetempo kenne.«
Ein mitfühlendes Zwinkern traf Ida. Ida blinzelte zurück und folgte den beiden Frauen in den hinteren Teil des großen, hellen Schankraumes. Der rötliche Ziegelboden war mit getrockneten Binsen und Blüten bestreut, die unter ihren Füßen leise knisterten und einen wohltuend aromatischen Duft verströmten. An der hinteren Wand des Raumes brannte ein Feuer, und an den blankgescheuerten Tischen standen Holzbänke und Schemel. Ida und Dorkas waren die einzigen Gäste, und wie Ida mit halbem Ohr hörte, fragte Dorkas gerade, wie Mateldas Geschäft ging.
Die adrette Wirtin strich mit einer resignierten Geste über den weiß gescheuerten Tisch, an den sie ihre Freundin gebracht hatte. »Nicht gut zur Zeit«, gab sie zu. Dorkas winkte ihr ungeduldig, sich zu ihnen zu setzen.
Matelda zögerte kurz und ließ sich dann lachend auf die Bank sinken. »Soll ich nicht erst für euer Abendessen sorgen?«
»Das kann noch warten. Wir verhungern dir schon nicht, Telda. Was gibt es Neues?«
Die Wirtin fuhr sich gedankenvoll mit den Fingern über den weizenblonden Scheitel. »Nachdem sich die Grenzen zum Nebelhort geschlossen hatten, war hier allerlei los. Du weißt schon, all die netten Boote, die nachts den Fluss hochkamen ...« Sie warf einen winzigen Seitenblick zu Ida, die betont dümmlich dreinblickte.
Dorkas sah amüsiert zu ihr hin. »Ja, ich weiß, was du meinst. Schließlich bin ich hin und wieder auf einem dieser ›netten Boote‹ mitgefahren. Und was hat sich jetzt geändert?«
Matelda hob die Schultern. »Aus irgendeinem Grund sichert die Garde des Hierarchen seit einigen Wochen verstärkt den Nebelfluss und die Küste. Es kommt so gut wie keiner mehr durch. Mir gehen langsam die Vorräte zur Neige – du weißt schon.« Wieder ein Blick zu Ida.
Dorkas runzelte die Stirn und fuhr sich nachdenklich mit dem Daumen über ihre Narbe. »Die Garde des Hierarchen? Bist du da ganz sicher? Nicht die Soldaten des Gelben Tetrarchen?«
Matelda sah sie empört an. »Entschuldige, Dorkas, aber ich bin doch nicht vollständig verblödet! Ich kann sehr wohl die einen noch von den anderen unterscheiden!« Dorkas legte besänftigend eine ihrer kräftigen Hände auf den Unterarm der anderen Frau.
Dann lächelte sie und gab ihr einen zärtlichen Klaps. »Bring uns doch erst mal was zu essen, Telda. Und einen ordentlichen Schluck zu trinken, falls deine Vorräte das noch zulassen. Ich denke, wir beide reden besser nach dem Essen weiter.« Matelda nickte und stand auf. »Sag, Telda«, hielt Dorkas sie auf. »Ist Mellis schon angekommen?«
Matelda schüttelte den Kopf. »Erwartest du sie?«
Dorkas
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