Anidas Prophezeiung
Landschaft lag, war von einer dichten Wolkendecke verhüllt. Dennoch stach eine beinahe unsichtbare Sonne auf ihren Kopf herab. In der drückend feuchten Luft lief ihr bald der Schweiß am ganzen Körper herunter.
»Was mache ich hier bloß?«, schimpfte sie unterdrückt vor sich hin, als die strohgedeckten Dächer von Sendra-Dorf gegen Abend in der Talsenke vor ihr auftauchten. Sie zügelte ihr Pferd und blickte auf die Häuser des Dorfes. Sie erinnerte sich an die ersten Wochen im Mutterhaus, als Dorkas und Mellis sie dort allein unter lauter Fremden zurückgelassen hatten und sie sich vor Heimweh jeden Abend in den Schlaf geweint hatte wie ein kleines Kind. Wie oft hatte sie dann im Halbschlaf das friedliche Bild vor sich gesehen, das sie jetzt betrachtete. Mehr als einmal hatte sie in der ersten Zeit in Tel'krias darüber nachgedacht, ob sie einfach auf ihre alte rote Stute steigen und im Galopp nach Hause zurückkehren sollte.
Ida stieß Nebel die Fersen in die Flanken. Gehorsam machte sich die Graue auf den Abstieg ins Tal. Sie ging langsam und ließ ein wenig den Kopf hängen, denn Ida hatte ihr an diesem letzten Tag der Reise nur wenig Rast gegönnt.
Idas Heimweh hatte sich dann im Laufe der Tage gelegt, je mehr sie sich im Gildenhaus eingewöhnt und die anderen Mädchen dort kennen gelernt hatte. Und dann, nach einigen Wochen, es war kurz nach dem Winteranfang, hatte Catriona sie in ihren Raum rufen lassen und ihr wortlos den Brief ihres Vaters übergeben. Danach war es eine Zeitlang wieder sehr schlimm gewesen, aber sie hatte gelernt, darüber hinwegzukommen. Ihre neuen Freundinnen hatten ihr dabei geholfen. Fast alle von ihnen kannten das, was Ida gerade durchlebte, aus eigener Erfahrung. In den letzten vier oder fünf Jahren hatte sie nur noch sehr selten an Sendra und an ihre Familie gedacht.
Gedankenverloren ritt Ida in das Dorf ein. Sie hatte sich entschieden, an diesem Abend nicht mehr zum Haus ihres Vaters weiterzureiten, sondern die Nacht bei Marisa zu verbringen, die sie sicher gerne aufnehmen würde. Die alte Hebamme wartete bestimmt begierig auf Nachrichten aus dem Mutterhaus, und Ida hatte einen ganzen Sack voller Grüße für sie dabei. Sie stieg vor der winzigen Kate aus dem Sattel und klopfte an die Tür. Drinnen bewegte sich jemand. Schnelle Schritte näherten sich. »Ich komme«, rief eine Stimme. »Wer ist es denn? Jella, ist es etwa schon soweit?«
Die Tür öffnete sich, und eine mollige junge Frau mit krausen schwarzen Haaren blickte die große Fremde auf ihrer Schwelle fragend an.
»Ich möchte zu – ist Marisa nicht daheim?«, fragte Ida überrascht. Die junge Frau riss die Augen auf und schüttelte den Kopf.
»Nein, sie ist – ach du liebe Güte – seid Ihr eine Freundin von ihr?« Sie hielt die Tür einladend auf und ließ Ida eintreten. Ida zog automatisch den Kopf ein und folgte der Frau in die Küche.
»Ich bin Nanna«, stellte die Unbekannte sich vor und deutete beinahe schüchtern auf die Küchenbank. Ida setzte sich und sah Nanna mit wachsendem Unbehagen an. »Wo ist Marisa? Kommt sie heute noch wieder, oder wurde sie wieder mal in eine der Nachbargemeinden gerufen?«
Nanna ließ sich auf einen Schemel sinken und faltete nervös die Hände. »Es tut mir leid«, sagte sie unglücklich. »Marisa ist im letzten Winter gestorben.«
»Oh«, sagte Ida und verstummte. »Oh nein«, setzte sie leise hinzu und strich zittrig mit der Hand über die samtweiche Oberfläche des alten Holztisches. »Warum hat niemand das Mutterhaus benachrichtigt?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
Nanna sah sie verwirrt an. »Welches Mutterhaus?«, fragte sie verständnislos. »Kommt, Ihr seht ganz bleich aus. Ich mache Euch einen Tee.«
Sie stand geschäftig auf und wandte sich zum Herd. Ida atmete tief ein und wischte etwas Feuchtigkeit aus ihren Augen. Sie war sicher keine enge Freundin der alten Hebamme gewesen, aber als Halbwüchsige hatte sie sehr an ihr gehangen. Es schmerzte sie, dass Marisa gestorben war, ohne ihre Freundinnen aus Tel'krias noch einmal gesehen zu haben.
»War sie krank?«, fragte sie. Nanna drehte sich um, den Wasserkessel in ihrer Hand, und offensichtlich erleichtert, eine Frage gestellt zu bekommen, die sie beantworten konnte.
»Es passierte ganz plötzlich«, sagte sie. »Ich war schon seit einem knappen Jahr hier bei ihr, weil sie meinte, dass sie langsam eine junge Hebamme zu ihrer Unterstützung und als Nachfolgerin brauchen konnte. Sie fing an, ein wenig
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