Anidas Prophezeiung
ganz dunkel ist.« Nanna brachte sie zur Tür und sah ihr kopfschüttelnd nach, wie sie davonritt.
Die Nacht war unmerklich auf sanften Flügeln herangekommen, als Ida endlich vor dem Hoftor vom Pferd stieg. Das Tor war geschlossen. Ida zögerte einen Moment lang, bevor sie es öffnete. Sie trat in den Hof, Nebel am Zügel hinter sich führend, und sah sich beinahe ängstlich um. Es schien sich nichts verändert zu haben. Da waren die Ställe, die Viehtränke, der Brunnen, selbst der Misthaufen war noch am selben Platz. Und da stand auch immer noch die alte Buche mitten im Hof. Vielleicht war ihr Stamm ein wenig dicker geworden, aber sie erschien Ida vollkommen unverändert.
In den unteren Fenstern des Hauses schimmerte warm und gelblich das Lampenlicht. Ida tat einen zögernden Schritt darauf zu und hielt inne, von plötzlicher Panik gepackt. Sie umklammerte die Zügel und griff nach dem Steigbügel. Gerade, als sie den Fuß hineinschob, öffnete sich die Haustür, und jemand sah heraus.
»Wer ist da?«, erklang der scharfe Anruf. »Kommt ins Licht, damit ich Euer Gesicht sehen kann.« Ida rang den Impuls nieder, sich aufs Pferd zu schwingen und aus dem Hof zu galoppieren.
Sie drehte sich zu der kleinen, rundlichen Frau in der Tür um.
»Hallo, Tante Ysabet«, sagte sie heiser. »Darf ich einen Moment hereinkommen?«
Die Frau schrie leise auf. Dann fühlte Ida sich von einem Paar weicher Arme umfangen und an einen üppigen Busen herabgezogen, während sie auf die Wangen und auf die Stirn geküsst wurde.
»Ida«, stammelte ihre Tante, während Tränen über ihr rundes Gesicht rollten. »Ida, Kind, lass dich ansehen. Du bist ja richtig erwachsen geworden, ach du meine Güte! Und was hast du bloß mit deinen Haaren gemacht?« Sie zog die überwältigte Ida mit sich ins Haus.
»Mein Pferd«, sagte Ida schwach.
»Egin wird sich darum kümmern. Wieke, lauf, sag Egin, dass er sich tummeln soll. Nun lauf schon, Kind!« Eine großäugig staunende Magd drückte sich an ihnen vorbei und rannte zum Gesindehaus hinüber. Ysabet drückte Ida auf die Bank neben dem Küchenherd und blieb vor ihr stehen, die Hände vor der Brust gefaltet. Ihr Gesicht strahlte vor Freude.
»Du siehst noch genauso aus, wie ich dich in Erinnerung hatte«, sagte Ida. Ysabet schüttelte den Kopf.
»Ich werde nur mit jedem Tag älter und klappriger«, sagte sie fröhlich. »Aber du, Kind, du hast dich verändert. Groß bist du ja schon immer gewesen, aber jetzt ...« Sie sah Ida aus zusammengekniffenen Augen kritisch an. »Du bist viel kräftiger als damals. Ach Kind, wie konntest du nur einfach so fortlaufen! Es war sicher sehr hart für dich bei diesen ...«
»Nein, Tante«, unterbrach Ida sie sanft. »Ich habe es sehr gut gehabt bei meinen Schwestern.« Sie sah das entsetzte Zucken, das über Tante Ysabets rundes Gesicht ging, aber Ysabet erwiderte nichts. Sie setzte sich schwerfällig neben Ida und griff nach ihrer Hand. Ida überließ sie ihr und sah fragend in das halb abgewandte Gesicht ihrer Tante. »Meinst du, ich kann Vater noch eben guten Abend sagen?«, fragte sie unter Herzklopfen. »Er schläft doch bestimmt noch nicht.«
»Ach, Ida«, sagte ihre Tante und begann zu weinen.
Ida umarmte sie erschrocken und fragte: »Was ist denn? Ist er denn immer noch so böse auf mich? Tante Ysa, sag mir doch bitte, was du hast!«
Die rundliche Frau wischte sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Augen trocken und lächelte Ida an. »Ich bin eine dumme alte Frau«, sagte sie weich. »Nein, Ida, ich denke nicht, dass wir deinen Vater heute noch stören sollten. Wir werden uns ein wenig zusammensetzen und erzählen, und dann mache ich dir dein Bett. Du siehst müde aus. Möchtest du etwas essen?«
Ida überließ sich widerspruchslos Ysabets Fürsorge. Es stimmte, sie war wirklich müde, sie spürte alle ihre Knochen, und ihre Glieder waren bleischwer. Sie erzählte Tante Ysabet ein wenig von der Gilde und gab ihr einen kurzen, sorgfältig bereinigten Abriss ihres eigenen Werdegangs – nicht alles, womit sie ihre letzten Jahre verbracht hatte, würde die Billigung der Tante finden. Ysabet hörte nickend und mit kleinen Lauten des Erstaunens zu. Dann klopfte sie energisch mit ihren Knöcheln auf den Tisch und sagte: »Ab ins Bett mit dir, Fräulein! Ich brauche meinen Schlaf, und du auch. Morgen ist ein neuer Tag.« Ida schmunzelte verhalten. Wie oft hatte sie das von ihrer Tante zu hören bekommen.
»Wo ist eigentlich Albi?«, fragte sie
Weitere Kostenlose Bücher