Anidas Prophezeiung
haben würde, denn wenn Mellis zum Grennach-Gebiet wollte, würden sich ihre Wege keine Tagesreise von Sendra entfernt erst in Weidenau trennen.
Sie übernachteten selbstverständlich in der »Silberweide«. Matelda bereitete ihnen einen fürstlichen Empfang. Sie saßen bis tief in die Nacht zusammen, und es tröstete Ida, als sie sah, dass Dorkas und die zierliche Wirtin sich immer noch so zugetan waren wie zu dem Zeitpunkt, als sie die beiden kennen gelernt hatte. Vielleicht war die praktische Matelda in der Lage, Dorkas von ihrem Vorhaben abzubringen.
Da sie spät ins Bett gekommen waren und Ida es ohnehin nicht eilig hatte, brachen sie nicht in aller Frühe auf. Nach dem geruhsamen Frühstück packte Ida ihre Sachen zusammen und stand noch eine Weile mit Dorkas auf dem Hof.
»Ich bleibe ein paar Tage hier«, sagte Dorkas. »Mir wird etwas Ruhe gut tun. Matelda hat versprochen, mich nach Strich und Faden zu verwöhnen.«
Ida sah in ihr verwittertes Gesicht und zwinkerte. »Dann lass dich aber auch verwöhnen und spring der Armen nicht mit dem Hintern ins Gesicht, wenn sie es versucht.«
»Ich bin eine alte Knurrhenne, das willst du doch damit andeuten, oder?«
Ida legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie fest an sich. »Du sagst es, aber du wärst nicht meine liebe Dorkas, wenn du nicht stachlig und knurrig wärst.«
»Seltsame Komplimente machst du«, brummte die stämmige Gildenfrau, aber sie lächelte. Dann griff sie in ihre Hosentasche. »Ich wollte dir noch etwas mit auf den Weg geben. Du wirst es später sicher brauchen.« Sie nahm Idas große Hand und legte etwas Winziges hinein.
Ida blickte auf ihre Handfläche und starrte dann Dorkas an. »Du – das ist deiner!«, sagte sie fassungslos. Zwischen ihren Fingern blitzte ein kleiner grüner Stein.
Dorkas neigte den Kopf. An ihrem Ohr hing nur noch der schlichte silberne Reif. »Ich habe Catriona gebeten, mich von meinem Eid zu entbinden.«
»O Dorkas!« Ida fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Sie umarmte die Ältere ungestüm. Dorkas tätschelte ihr unbehaglich die Schultern.
»Nun komm schon, Kleine, das ist doch kein Weltuntergang. Ich komme bestimmt eines Tages wieder. Du musst halt eine andere bitten, deine Schwurschwester zu sein. Deshalb dachte ich, ich gebe dir wenigstens meinen Stein.«
Die rührselige Szene wurde glücklicherweise von Mellis unterbrochen, die mit munter den Hof fegendem Schweif zu ihnen kam und beide in die Seiten boxte. »Ida, meine Lieblingsriesin, wollen wir aufbrechen?«
Ida wischte sich verlegen die feuchten Augen und nickte. »Wenn wir noch länger warten, sind wir erst nach Mitternacht in Weidenau. Lass uns also gehen, meine Lieblingszwergin.«
Sie ritten eine lange Zeit in Gedanken versunken nebeneinander her durch den sacht fallenden Sommerregen. »Ich werde sie schrecklich vermissen«, sagte Ida unvermittelt.
Mellis seufzte. »Ich habe alles versucht, um sie davon abzuhalten, aber sie war so stur wie meine Distel hier.« Sie stupste die Eselin zärtlich in die Seite.
»Vielleicht hat Matelda mehr Glück«, sagte Ida hoffnungsvoll.
»Glaubst du?«
Ida hob die Schultern. »Warum gehst du eigentlich nicht mit ihr, wenn du dir solche Sorgen um sie machst?«, fragte sie schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
»Weil es eine Sache ist, als Menschenfrau dort im Untergrund zu arbeiten, und eine andere, das als Grennach zu versuchen«, gab Mellis hart zurück. »Es war unvernünftig genug, dass ich beinahe vier Jahre lang dort als Wanderarbeiterin herumgereist bin. Keine Nebelhort-Grennach würde jemals auf diese Idee kommen. Ich werde jetzt mit den Nestältesten beraten, wie wir mit unseren Schwestern im Nebelhort Kontakt aufnehmen können. Ich verstehe ohnehin nicht, wieso das nicht schon längst geschehen ist.«
Sie klang aufgebracht. Ida lenkte ihre Stute näher an die Eselin heran und griff entschuldigend nach Mellis' Schulter. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken, Mellis. Du warst dort, ich nicht.« Mellis nickte knapp, und sie schwiegen wieder, bis in der späten Dämmerung die Mauern von Weidenau in Sicht kamen.
Der Abschied von Mellis am nächsten Morgen fiel Ida nicht so schwer wie der von Dorkas, vielleicht, weil er ihr nicht gar so endgültig erschien. Sie sah der kleinen Frau auf ihrem eigensinnigen Reittier noch eine Weile hinterher, dann lenkte sie schweren Herzens ihre Stute auf den Weg nach Sendra. Der Tag hatte schwül begonnen, und der Himmel, der über der hügeligen
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