Anklage
drückte, ertönte eine altmodische Klingel. Ich hatte ein solches nichtelektronisches Klingeln schon lange nicht mehr gehört.
Nach einer kleinen Ewigkeit öffnete der alte Mann die Tür.
»Ah, Herr Rechtsanwalt. Bitte kommen Sie herein.«
Ich trat in den engen Flur, legte meinen Mantel ab und ging in die warme Stube, wohin der alte Mann vorausgegangen war. Er setzte sich an einen Esstisch mit geblümter Plastiktischdecke.
»Nehmen Sie doch bitte Platz. Meine Frau hat einen Hefezopf gemacht. Nach einem Spezialrezept von ihrer Großmutter. Möchten Sie eine Tasse Kaffee dazu?«
In diesem Augenblick bemerkte ich die alte Dame, die mit einer Küchenschürze umwickelt an einer weißen Küchenzeile schon große Stücke von dem Hefezopf schnitt. Der bereits aufgesetzte Kaffee und der frische Hefezopf verströmten ihren verführerischen Duft, dem wohl niemand widerstanden hätte. Die Frau des alten Mannes brachte mir eine altmodisch gemusterte Blumentasse gefüllt mit Kaffee und ein Riesenstück Hefezopf. Sie lächelte gütig.
»Lassen Sie es sich schmecken«, sagte sie und ging zurück an die Küchenzeile.
Der Hefezopf und die herzliche Atmosphäre ließen mich für einige Augenblicke vergessen, warum ich eigentlich gekommen war.
»Der Zopf ist sehr lecker, aber es gibt da was, das wir unbedingt besprechen müssen«, leitete ich zum eigentlichen Thema über. »Die Versicherung hat einen Betrag von 322 Euro abgezogen und möchte ihn nicht bezahlen. Darüber und über die Möglichkeiten, diese Vorgehensweise gerichtlich anzufechten, sollten wir uns unterhalten.«
Ich schilderte das Gespräch sowohl mit dem Versicherungssachbearbeiter als auch meinen Anruf im Krankenhaus und die besondere Problematik der Kosten in dem Fall. Ich rechnete dem alten Mann exakt vor, was er für ein Risiko zu tragen hätte und wie die Abläufe der Vorauszahlungen bei Gericht sind.
»Und letztendlich muss ich erst mal alles vorausbezahlen, auch den Gutachter. Den ganzen hohen Betrag?«, fragte er nach. Ich nickte. In meinem Innersten erwartete ich einen Wutausbruch des alten Mannes, aber der blieb zu meiner Überraschung aus.
Er saß da, nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und sagte mit fester, ruhiger Stimme: »So was habe ich mir schon gedacht. Versicherungen sind auch nur Wirtschaftsunternehmen und keine Absicherungsanstalten. Ich war noch nie so naiv, das anzunehmen. Deshalb wundert mich das nicht.« Er blickte in mein erstauntes Gesicht. »Was macht Sie so nachdenklich? Haben Sie etwa an die Versicherungen geglaubt?«
»Na ja, an die Versicherungen nicht, aber an die Aufrichtigkeit der Versicherung. Dass sie zahlt, was sie zahlen muss. Ich hätte ihr keine schmutzigen Tricks zugetraut«, antwortete ich. Aber der alte Mann hatte recht. Es brachte nichts, sich über das unanständige Verhalten der Versicherung und des Krankenhauses
aufzuregen. Besser ist es, nach vorn zu schauen und eine Lösung zu suchen.
»Dann werden wir den Fall wohl begraben«, überraschte mich der alte Mann.
»Wieso wollen Sie auf Ihr gutes Recht verzichten?« »Ach wissen Sie, ich habe das Geld nicht für den Prozess. Bei der Bank brauche ich gar nicht vorzusprechen, denn die geben einem alten Knochen wie mir keinen Cent mehr. Das Risiko, dass ich schneller sterbe, als der Kredit zurückbezahlt werden kann, ist denen wohl zu hoch. Zumindest hat meine Bank, bei der ich seit über vierzig Jahren Kunde ohne Fehl und Tadel bin, erst vor zwei Jahren einen Kredit abgelehnt, mit dem ich unser Haus streichen lassen wollte. Meine kleine Rente lässt es nicht zu, dass ich den Maler auf einmal bezahle, Ratenzahlen war nicht möglich und selber machen kann ich es nicht mehr. Also bin ich zur Bank. Die hat damals rundweg abgelehnt, also wird es heute auch nicht besser aussehen. Schließlich bin ich ja nicht jünger geworden.« Wieder nippte er an seinem Kaffee. »Und da gibt es ja noch Sie.«
»Was habe ich denn damit zu tun?«
»Ganz einfach. Wenn Sie bei einer so kleinen Sache klagen, dann verdienen Sie nicht genug, um die Kosten einzuspielen, die mein Fall in Ihrem Büro verursacht. Auch wenn Sie über staatliche Prozesskostenhilfe bezahlt würden, ändert das nichts an der Situation und meiner Entscheidung.«
Ich war erstaunt, wie gut er informiert war. Bevor ich nachfragen konnte, zeigte der alte Mann in eine Ecke der Wohnküche, in der wir saßen. »Woher ich das alles weiß? Mein Computer, und der hat sogar Internet. Man findet da so einiges. Auch wenn
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