Anklage
1
Gleich würde es überstanden sein. Vom Fensterbrett des fünften Stockwerks aus konnte man weit sehen. Von hier oben sah alles so harmonisch aus. Besonders an so einem herrlichen Frühlingstag: Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte die Großstadt in ein fröhliches Licht. In den belebten Straßencafés der Prachtmeile war jeder Platz besetzt. Viele Tische waren beladen mit Geschirr. Die Kellner kamen mit dem Abräumen gar nicht mehr nach, trotzdem ließen sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Gäste störte das nicht weiter. Wer das Glück hatte, einen Platz in der ersten Reihe ergattert zu haben, nahm ein bisschen Geschirr auf dem Tisch gern in Kauf. Zum Bestellen reichte der Blickkontakt mit dem Kellner: eine Geste auf ein leeres Glas und mit den Fingern der anderen Hand die Anzahl gezeigt, und er wusste Bescheid.
Die Luxusboutiquen mit ihren Nobelmarken spien unentwegt Menschen mit bunten Tüten aus, während sie gleichzeitig ebenso viele Menschen einsogen. Offene Cabrios mit lauter Musik rollten die Straße entlang.
Dort unten breitete sich das Flair südlicher Lebensart aus mit einer entspannenden Urlaubsatmosphäre - einfach himmlisch. Hier oben sah die Welt ganz anders aus. Hier oben war die Hölle, in der ein riesiges Fegefeuer brannte. Flammen, die auf einen ganz bestimmten Sterblichen warteten: auf mich. Ich hatte die Hoffnung, durch dieses Feuer gereinigt und von all meiner Pein erlöst zu werden.
Es fehlte nur noch ein einziger, entscheidender Schritt nach vorn für meine persönliche Lösung.
Mein Blick blieb an der Mittellinie der Straße hängen. Ursprünglich ein reines Weiß, war sie oft überfahren, abgenutzt und grau geworden. Diese Mischfarbe erinnerte mich an
mein Leben als Anwalt. Ein Leben, das einst weiß und rein war, richtiggehend poliert schien, und nun hässliche, dunkle Flecke aufwies. Und nun stand ich im fünften Stock, mein Schreibtisch war aufgeräumt und alles, was noch wichtig und zu erledigen war, hatte ich niedergeschrieben.
Aber welches Leben hatte keine dunklen Flecke, wer war schon frei von Fehlern?
Meine Gedanken schweiften zurück in meine Studentenzeit. Ich war ein engagierter und enthusiastischer Idealist gewesen. Mein Ziel war Gerechtigkeit und ich war sicher, dass ich mithelfen konnte, sie in der Welt zu halten. Oder sie auch manchmal in die Welt zu bringen. Dafür studierte ich Jura, bestand alle diese schweren Prüfungen beim ersten Anlauf. Nach den beiden Examen war sofort klar, dass ich Anwalt werde. Ich wollte für die Gerechtigkeit kämpfen, sonst nichts. Das hatte ich dann auch bei der Zulassung zur Anwaltschaft geschworen. Vor allem aber hatte ich es mir aus tiefstem Herzen vorgenommen. Ich meinte jede Silbe des Schwurs ernst. »Recht und Gerechtigkeit sind mein Ziel und dabei bin ich unabhängig und frei.« Meine Karriere hatte ganz gut angefangen und ich wähnte mich zu Beginn auf dem richtigen Weg, doch jetzt stand ich nur einen Schritt vor dem endgültigen Ende. Aber was hatte mich nur an diesen absoluten Tiefpunkt meines Lebens gebracht? Welche Macht hatte auf mich eingewirkt, die mich innerlich verbogen, ja, zerrissen hat?
Ich versuchte mir diese Frage zu beantworten, während ich weiter auf die Mittellinie starrte. War ich tatsächlich am Ende angelangt? Gab es keinen anderen Ausweg als diesen, als all dem ein Ende zu setzen durch einen Sprung aus dem fünften Stockwerk? Ich fühlte mich leer, müde und traurig. Von außen betrachtet hatte ich doch alles erreicht. Der Job als Anwalt hatte mir ein Leben in Luxus erlaubt. Dennoch stand ich hier.
Mein Leben begann vor meinem inneren Auge abzulaufen: Kindheit, Freunde, Schule, Studium.
Meine Gedanken sprangen zurück an einen Tag im November. Damals war ich 29 Jahre alt, enthusiastisch und Anwalt für Strafrecht und Arbeitsrecht in einer größeren Kanzlei einer langweiligen Kleinstadt. Die Kanzlei war modern, erfolgreich und perfekt organisiert. An diesem Tag begann, was mich schlussendlich hierherbrachte.
2
Ich hatte um diesen Fall wirklich nicht gebeten, ja, ich habe ihn mir nicht einmal gewünscht. Und doch erreichte er mich - der Fall, der mein Leben verändern sollte.
Als ich mich an einem trüben Novembervormittag auf den Weg zu einer großen Polizeidienststelle machte, um einen neuen Mandanten zu treffen, hatte ich aber davon noch keine Ahnung. In der Kanzlei hatten sie mir gesagt, es sei ein ganz großes Ding. Wie schmutzig und niederträchtig dieser Fall tatsächlich war,
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