Anna, die Schule und der liebe Gott
Und er löchert mich mit Fragen nach allen Details, wenn ich ihm eine Geschichte erzähle über eine frühere Fußballweltmeisterschaft, über das Jagdverhalten von Zigarrenhaien, über die Freund-Feind-Linien im Ersten Weltkrieg oder einfach einen Schwank aus meiner Jugend.
Aber in die Schule geht Oskar nicht besonders gern. Manchmal denke ich, dass ich auch gar kein Kind haben möchte, das gern in diese Schule geht, in die er geht. Dabei ist es noch nicht einmal eine besonders schlechte Grundschule. Es ist eine ganz gewöhnliche deutsche Grundschule, in der eine Lehrerin allein vor einer Klasse steht, Arbeitsblätter ausgefüllt werden, damit Kinder grammatikalische Regeln und das Wichtigste über die Römer lernen, und man Tests schreibt, um Noten dafür zu bekommen. Dass eine solche Schule Kinder nicht zu Begeisterungsstürmen veranlasst, braucht nicht zu verwundern. Im Grunde ist ihre Begeisterung auch nicht gefragt, sondern ihr Funktionieren. Und wer die Vorgaben am genauesten erfüllt, wird am höchsten gelobt.
Was ich gern hätte, wäre ein Kind, das voll Freude in eine ganz andere Schule geht. Eine Schule, die ein Lern-Abenteuer ist, die die Neugier entzündet, die Potenziale entfaltet und den Sinn dafür schärft, wie unendlich spannend die Welt ist. Doch wenn Oskar an die Schule denkt, auf die er geht, denkt er an Langeweile und an mühseliges Stillsitzen. Für ihn ist die Schule ein Ort, an dem ein Pensum abgearbeitet wird und an dem er als Person gar nicht richtig vorkommt. Dass sein Vater ein Buch ausgerechnet über die Schule schreibt, will ihm nicht in den Kopf. So ein langweiliges Thema!
Oskars Verdruss über die Schule ist kein Einzelfall. Es gibt ihn hunderttausendfach bei Schülern, Eltern und auch bei Lehrern. Nach einer Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag des stern bemängeln zwei von drei Deutschen unser Schulsystem. Einen genaueren Aufschluss über diese umfassende Unzufriedenheit erlangt man durch die Studie » Eltern unter Druck « der Konrad-Adenauer-Stiftung. Danach sind die Belange der Schule vor allem in der sogenannten bürgerlichen Mitte » zum beherrschenden Thema des Familienlebens geworden. Das staatliche Schulsystem wird als mangelhaft und wenig zukunftsfähig erlebt. « Und eine Mehrheit der Befragten erklärte sich sogar dazu bereit, » Schulgebühren zu bezahlen, wenn ihr Kind dadurch besseren Unterricht und bessere Lehrer hätte « . 48
Das Dilemma unserer Schulen besteht darin, dass sie ihre selbst gestellten Aufgaben nicht erfüllen: die Persönlichkeit unserer Kinder zur Entfaltung zu bringen und sie für vielfältige weitere Lebenswege vorzubereiten. Dabei lässt sich abendfüllend darüber streiten, ob die Schulen diesen Anspruch je erfüllt haben oder nicht. Vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert konnte von solchen Zielen allerdings ohnehin noch nicht die Rede sein.
Vieles von dem, was unsere Schulen heute als institutionalisierte Lernfabriken erscheinen lässt, ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Zwar rekrutierte man die Schüler bereits im 19. Jahrhundert jahrgangsmäßig in Schulklassen, aber den permanenten Zyklus von Klassenarbeiten gab es noch nicht, ebenso wenig die Bewertung von Schülerleistungen durch sechs Ziffern. Auch der Fünfundvierzig-Minuten-Takt der Unterrichtsschulstunden ist ein typisches Kind des frühen 20. Jahrhunderts. Die Dreiviertel-Unterrichtsstunde wurde 1911 vom Staatsminister August von Trott zu Solz (1855 –1938) am preußischen Gymnasium eingeführt, unter anderem deshalb, um durch verkürzte Unterrichtszeit nicht ortsansässigen Gymnasiasten mehr Zeit zur An- und Abreise nach Hause zu geben. Inwieweit das akademische Viertel der Universitäten hierfür richtungsweisend war, ist ebenso umstritten wie die Herkunft des Dreiviertel-Stundentakts aus dem Klosterleben.
Mit individueller Förderung oder gar umfassender Potenzialentfaltung der Schüler hatte dieses System nie etwas zu tun. Ziel war nicht, jedes Kind sich nach seinen Möglichkeiten entwickeln zu lassen, wie Humboldt es sich erträumt hatte, sondern geradezu das Gegenteil. Das gesamte System hatte – nicht nur in Preußen – einen enormen Drang zur Uniformität. Schulen, wie das frühe 20. Jahrhundert sie für seine damaligen Bedürfnisse entwarf, waren gezielt gestaltete Lernfabriken. Nicht Pädagogen oder Entwicklungspsychologen konstruierten den Prototyp der Lehranstalten, sondern Politiker und Ökonomen. Der Geist der Zeit war der Taylorismus, benannt nach dem
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