Anna, die Schule und der liebe Gott
Abstufungen und Schattierungen. Doch dass unsere Schulen im Normalfall nicht die Kraft und Eigentümlichkeit des Denkens von Schülern messen, darüber lässt sich schnell Einigkeit erzielen. Stattdessen messen sie Lernleistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Bildungsziel, das seinen Ausdruck in einem Benotungs- und Prüfungssystem findet, ist ein quantitatives. Dagegen verfochten die genannten Verfassungsväter unserer Vorstellung von Bildung ein untrennbares Ineins von Herzensbildung und Gedankenschliff. Der qualitative Bildungsbegriff, der ihm überhaupt erst seinen spezifischen Sinn verleiht, ist aber heute zumeist schmückendes Beiwerk für Schuldirektoren bei der Zeugnisvergabe.
Bildung, meinten die Urheber des Begriffs im 18. Jahrhundert, ist ein Zweck an sich, der nicht verzweckt werden dürfe. Gemessen an der Verwendung von Bildung und Bildungsstatus über zwei Jahrhunderte eine hoch idealisierte Vorstellung. Die ideale zweckfreie Bildung nämlich war und ist immer bedroht von einer zweifachen Verzweckung. Einmal soll die quantifizierte Bildung in unseren Schulen die Spreu vom Weizen trennen. Zum anderen dient sie auch nach der Schule als ein Statusgarant, der den sozialen Aufstieg und das Prestige des Gebildeten sichern soll. Mit spitzer Feder hat der Soziologe Heinz Bude, Professor an der Universität Kassel, die drei Funktionen der Bildung in unserer gegenwärtigen Gesellschaft gezeichnet. Danach dient Bildung heute erstens dazu, Früchte in Form eines qualifizierten Berufs und von Status und Geld abzuwerfen. Sie soll sich kapitalisieren. Zum zweiten legitimiert Bildung diesen sozialen Status und rechtfertigt zum Beispiel Einkommensunterschiede. Ein Arzt darf in unserer Gesellschaft deshalb mehr verdienen als ein Arbeiter, weil er dafür ein schwieriges Studium absolviert hat. (Diese Regel gilt allerdings nur, wenn sich der Erfolg auch tatsächlich einstellt. Ein promovierter arbeitsloser Geisteswissenschaftler beispielsweise hat kein Anrecht auf ein höheres Arbeitslosengeld als ein Arbeiter.) Die dritte Funktion von Bildung ist, nach Bude, die Zementierung einer Statusposition in der Generationenfolge. Bildungsbürger geben gemeinhin ihr Wissen an ihre Kinder weiter und fördern sie nach Kräften. Sie wollen » an ihre Nachkommen weitergeben, was sie für sich erreicht haben «, und bewirken damit Stück für Stück einen » Monopolisierungseffekt durch die Weitergabe von Startvorteilen « . 13
Ist Bildung, wie Humboldt und seine Gefährten meinten, ein Menschenrecht für jeden Staatsbürger? Gibt es eine Verpflichtung des Staates, möglichst jeden nach allen Kräften zu fordern und zu fördern? Und wenn man dies grundsätzlich unterschreibt, ist es dann nicht Aufgabe des Staates, der Zementierung von Bildungsdynastien etwas entgegenzusetzen? Ein grandioses Förderprogramm zum Beispiel für die, deren Elternhäuser keine Startvorteile, sondern Nachteile darstellen? Macht die Rede von der verfassungsrechtlich garantierten prinzipiellen Chancengleichheit für jedermann überhaupt einen Sinn, wenn die soziale Realität ihr Hohn spricht?
Ein gerechtes Bildungssystem, das jedem die gleiche Chance gibt, nach seinen Möglichkeiten davon zu profitieren – an diesem Maßstab muss sich jede Schule und jedes Bildungssystem in Deutschland messen lassen. Hält es dem stand?
7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, WW 3, (1806) Suhrkamp, S. 386
8 Johann Gottfried Herder: Sophron. Gesammelte Schulreden, in: Werke (12), Zur Philosophie und Geschichte, Cotta 1810, S. 72
9 Wilhelm von Humboldt: Rechenschaftsbericht an den König (1809), in: Werke (4), Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Cotta 1860, S. 218
10 Benner (2003), S. 177
11 Quenzel/Hurrelmann (2010), S. 22
12 Ebd., S. 18
13 Vgl. Bude (2011), S. 35 – 37
Das Dilemma unserer Schulen
Und dann müssen wir noch Schulen einführen,
um die Kinder aus dem Weg zu schaffen:
der eigentliche Zweck von Schulen.
Karl Popper
Hurra! Hurra!
Wir haben ein Ritual. Wenn mein neunjähriger Sohn Oskar in der Woche morgens aufstehen muss, dann wecke ich ihn mit den immer gleichen Worten: » Oskar, du darfst heute in die Schule gehen …! « Und er murmelt noch schlaftrunken und nachtmüde: » Hurra! Hurra! « Zynismus ist etwas, das man nicht lernen muss.
Warum freut Oskar sich nicht auf die Schule? Wie so viele andere ist er ein neugieriges, ungemein wissbegieriges Kind. Er liebt es, Ratespiele zu machen im Stil von Wer wird Millionär?
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