Anna, die Schule und der liebe Gott
Abwehrbewegung gegen jede Transformation des Bildungssystems. Nämlich indem man darauf verweist, was es nicht schon alles an Anregungen, Vorschlägen und revolutionären Ideen auf dem Bildungssektor gegeben hat. Das ist richtig. Und selbstverständlich ist vieles von dem, was in diesem Buch kritisiert und diskutiert wird, nicht neu. Das Gleiche gilt für viele Verbesserungsvorschläge. Manches ist sogar bis zu zweihundert Jahre alt. » Die Arbeit des Philosophen « , meinte Ludwig Wittgenstein einmal, » ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck, nämlich der übersichtlichen Darstellung. «
Schon die Reformpädagogen zu Anfang des 20. Jahrhunderts eiferten mit der Glut von Aposteln und der Güte der Weisen um völlig andere Lehrmethoden und Schulen. Die schwedische Schriftstellerin Ellen Key verkündete 1902 das » Jahrhundert des Kindes « . Die italienische Ärztin Maria Montessori erteilte der autoritären Obrigkeitspädagogik ihrer Zeit eine Abfuhr und erkannte das Kind als » Baumeister seines Selbst « . Der Reformpädagoge Georg Kerschensteiner forderte, das » Wollen und Können « der Schulkinder zu fördern, statt auf reine Wissensfülle zu setzen, und verlangte eine umfassende Bildung für alle Bevölkerungsschichten. Peter Petersen und Berthold Otto propagierten einen klassenübergreifenden Unterricht sowie eine Einheitsschule für alle Bevölkerungsschichten.
In dem Postulat, dass Kinder so freudig wie möglich durch unmittelbare Erfahrung lernen sollten, statt Lern-Dienst nach Vorschrift abzuleisten, waren sich alle Reformpädagogen einig. Der Weg des Lernens sollte das Ziel sein, nicht ein oktroyierter normierter Wissensstand. Doch eine umfassende Bildungsrevolution hin zu kindgerechtem Lernen blieb aus. Stattdessen haben Schüler, Lehrer und Bildungspolitiker in allen Bundesländern ungezählte in herrlichem Bürokratendeutsch verfasste Reformen, Inventuren, Richtlinien, Vorschläge und dergleichen erlebt. Das Resultat ist ein verwaschener und in seinem Muster nur noch schwer zu erkennender Flickenteppich. So viel Mühe auch in die Verbesserung unserer Schulen gesteckt wurde, wie viele ideologische Grabenkämpfe auch ausgefochten wurden – der gegenwärtige Befund ist unmissverständlich. Nach Erkenntnis von OECD -Studien hat Deutschland inzwischen eines der schlechtesten Schul- und Bildungssysteme unter allen Industrienationen der Welt. Und zwar in allen maßgeblichen Belangen. Pädagogisch so freundlich wie möglich ausgedrückt: » Im internationalen Vergleich schafft es das deutsche Schulsystem weder in der Begabtenförderung noch im durchschnittlichen allgemeinen Bildungsniveau noch im Abbau von Bildungsarmut eine führende Position einzunehmen. « 3
Wie konnte das passieren? Warum haben sich die in zentnerschweren Evaluierungen ermittelten und unter Experten weitgehend unstrittigen Reformideen für das deutsche Schulsystem so selten durchgesetzt? Warum ist Lernen an den meisten deutschen Schulen noch immer nicht kindgerecht, wo man sich unter Fachleuten doch schon lange nicht mehr ernsthaft darüber streitet, wie man es kindgerecht machen könnte und müsste ? Warum fallen in Deutschland so viele Kinder völlig durch die Maschen des Bildungssystems? Warum sind die Bildungschancen eines Kindes hierzulande stärker als in jeder anderen Industrienation abhängig von der Schicksalslotterie des Elternhauses?
Sind an alledem, wie manche Lehrer meinen, vorwiegend die Eltern schuld? Aber warum sollte es in Deutschland grundsätzlich mehr verantwortungslose Elternhäuser geben als etwa in Frankreich oder Italien? Das Einkommen der Eltern ist im Schnitt nicht geringer, und der Medienkonsum unserer Kinder ist nicht höher als in den meisten anderen OECD -Ländern.
Appelle an verantwortungslose Elternhäuser, ihre Kinder anders zu erziehen, haben noch nie Früchte gezeitigt. Und Klagen über uninteressierte und unaufmerksame Schüler fallen immer auf den Klagenden zurück. In solcher Lage hilft nur ein Umbau des gesamten Systems. Wäre das Schulsystem, so wie es heute besteht, ein Unternehmen, so wäre es längst pleitegegangen. Wäre es ein Staat, wäre es bereits vor Jahrzehnten implodiert. Aber wie bringt man die Verantwortlichen auf allen Ebenen dazu, das System zu ändern, wenn man sich im Zweifelsfall damit rechtfertigen kann, dass – OECD -Studien hin, Eltern- und Schülerklagen her – doch alles » gar nicht so schlecht « sei?
» Gar nicht so schlecht « ist viel
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