Anna, die Schule und der liebe Gott
zu wenig, wenn es um das Lebensschicksal unserer Kinder geht und die Zukunft der Gesellschaft. Warum sollte uns dafür das Beste nicht gerade gut genug sein?
Weil, so lautet die ehrliche Antwort, die Frage nach dem Besten gar nicht im Zentrum der Debatten um die Schule steht. Statt um Ziele geht es um Befindlichkeiten. Wer seit längerer Zeit etwas zu verantworten hat, empfindet im Regelfall eine starke Aversion gegen Veränderungen. Sie stellen die bisherige Lebensleistung in Frage. Das hat niemand gern. Und die Neigung, das Hergebrachte und das Gewohnte zu verteidigen, wenn wir nur selbst damit in Verbindung stehen, ist eine zuverlässige Komponente unserer Psyche. Große Veränderungen sind stets mit einem Energieaufwand, mit zusätzlichen Anstrengungen, Unsicherheiten und Risiken verbunden. Und wer vieles neu machen will, erscheint schnell als praxisferner Spinner. Gewöhnlich reagiert man auf Verbesserungsvorschläge, wie die Bildungsforscher Stefan Hopmann und Gertrude Brinek von der Universität Wien feststellen, mit Schweigen. Man verhindert so, dass der Kritiker ausreichend öffentliche Resonanz bekommt. Stellt sich die Beachtung trotzdem ein, so spricht man dem Kritiker eilig die Kompetenz ab und unterstellt ihm Aufmerksamkeitssucht oder unlautere Geschäftemacherei. Zur Not gesteht man isolierte Probleme zu und behauptet zugleich, dass diese nicht sonderlich relevant sind. Und wenn alles nichts hilft, kann man sagen, dass die Kritik nicht neu und widerlegt sei. 4 Mit einem Buch über die Schule kann man es zumeist jedem nur unrecht machen. Denn was immer man an Verbesserungen vorschlägt, ist entweder » alles längst bekannt « oder » völlig utopisch « und » weltfremd « .
Doch wer, so wäre dagegen zu fragen, kalkuliert, was eigentlich an Nebenwirkungen und schleichenden Katastrophen eintritt, wenn keine Veränderungen an unserem Bildungssystem vorgenommen werden und alles beim Alten bleibt? Die Antwort scheint nicht schwer, denn die Tendenz ist längst da: Unser Schulsystem zerfällt in ein Zwei-Klassen-System. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Und die öffentlichen Schulen verkommen zu Restschulen für Unterprivilegierte.
Das althergebrachte Klassenzimmer-Modell kann und wird in der Zukunft so nicht erhalten bleiben. Die historischen Gründe, die den Frontalunterricht, wie wir ihn kennen, die Fünfundvierzig-Minuten-Taktung, das Unterrichten nach Jahrgängen und die Notwendigkeit von Zensuren, Klausuren und Hausarbeiten einmal auf den Plan gebracht haben, sind eben dies: historisch. Ein Blick auf die Mentalität heutiger Schüler belehrt unmissverständlich darüber. Sie lernen einen » Stoff « , von dem sie wissen, dass sie ihn nach abgelegter Prüfung schnell wieder vergessen dürfen – was sie im Regelfall auch tun. Und sie verstehen dabei intuitiv, dass viele dieser Dinge, so wie sie ihnen beigebracht werden, mit ihrem Leben nicht allzu viel zu tun haben werden, dass sie nicht » wichtig « sind, um ihr immer komplizierteres Leben in einer immer unübersichtlicheren Welt erfolgreich zu gestalten. Die Schule und das wirkliche Leben – noch nie seit Einführung der Schulpflicht hielt das » und « dies beides so sehr auseinander wie heute.
Schon der Römer Seneca formulierte es in ironischer Absicht: dass man in der Schule nicht für das Leben lerne, sondern für die Schule. Heute gilt dies viel stärker als in früheren Zeiten. Kinder, die im Jahr 2013 eingeschult werden, gehen im Jahr 2074 in Rente. Weder für sie noch für ihre Eltern ist sichtbar, dass sie in der Schule auf diese Zukunft vorbereitet werden. Gewiss, es ist eine Zeit, über die keiner etwas Verbindliches weiß. Ob wir (was wahrscheinlich ist) in fünfzig Jahren in einer Welt leben, in der Werbetafeln die Gesichtszüge von Passanten lesen und Turnschuhe Psychoprofile ihrer Träger erstellen, 5 oder in einer Welt, die ihre ganzen Anstrengungen darauf gerichtet haben wird, Kriege unmöglich zu machen und das Welthungerproblem zu lösen (was unwahrscheinlich ist) – niemand kann das wissen. Aber vielleicht wäre schon viel gewonnen, wenn wir zukünftige Generationen dazu ermutigen können, ihre Kreativität zur Lösung des Welthungerproblems einzusetzen, statt millionenfache Antworten zu finden auf nie gestellte Fragen.
Manches von dem, was in Zukunft anders sein wird, ist bereits deutlich abzusehen. » Tiefe Kreativität und analytisches Denken sind nicht länger eine Option, sie sind
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